„Wir sind alle äußerst nervös“

Johannes EISELE/AFP
Von surreal bis angsteinflößend: So erleben Vorarlberger die Situation.
Seit 25. Mai, jenem Tag, an dem der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis iMai, jenem Tag, an dem der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota im Rahmen einer gewaltsamen Polizeiaktion tödliche Verletzungen erlitt, kommen die USA nicht zu Ruhe. Seit jenem Tag protestieren unter dem Motto „Black Lifes Matter“ (dt. „schwarze Leben zählen“) nicht nur Millionen Menschen in amerikanischen Gemeinden gegen Rassismus und Polizeigewalt, sondern weltweit – unter anderem auch am vergangenen Samstag in Bregenz.
Wie erleben in Amerika lebende Vorarlberger beziehungsweise für heimische Firmen tätige Menschen diese Proteste? Die NEUE hat bei Thomas Wunderlich, Katharina Novizky-Hosp und Sirin Samman nachgefragt.

Surreal
Wunderlich, der seit 2015 für den Dornbirner Leuchtenhersteller Zumtobel als „Director Regional Sales Management – Territory West/Global Key Account Management“ zuerst in Texas und seit 2018 in Kalifornien tätig ist, berichtet auf NEUE-Anfrage von „großen Plünderungen“ in Santa Monica. Er wohnt knapp drei Meilen (etwa 4,8 Kilometer) von der kalifornischen Stadt entfernt am Rande von Venice Beach. „Wir waren zwar nicht physisch vor Ort, haben aber die Proteste und Vorfälle live im TV verfolgt. Es ist schlimm, zu sehen, wie Orte, an denen wir erst kurz vor der „Stay at Home Order“ aufgrund der Covid-19-Pandemie waren, nun bei Protesten regelrecht zerstört worden sind. Noch heute sind – als Vorsichtsmaßnahme – Geschäfte und Restaurants in unserer unmittelbaren Umgebung verbarrikadiert“, berichtet der 50-Jährige von der für ihn derzeit äußerst surrealen Situation.

Gemäß seinen Angaben war die Stimmung aufgrund der Corona-Krise bereits vor dem tödlichen Zwischenfall und den als Reaktion darauf entstandenen landesweiten Protesten sehr angespannt. Wunderlich vermutet, dass der Tod des Afroamerikaners der berühmte Tropfen war, der nun das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Niedrige Toleranzschwelle
Akte von Polizeigewalt gegen die nicht-weiße Bevölkerung gebe es in den Vereinigten Staaten von Amerika immer wieder. Warum gerade die aktuelle Protestbewegung derart eskaliert, kann Thomas Wunderlich nur so erklären: „Aufgrund der derzeit hohen Arbeitslosigkeit, dem Verlust der Gesundheitsversorgung und der daraus resultierenden schlechten wirtschaftlichen Lage sind die Menschen unzufrieden, sehen teilweise keinen Ausweg aus der prekären Lage und daher ist die Toleranzschwelle der Polizisten extrem niedrig.“

Als „völlig überfordert“ mit der Situation erlebte der Zumtobel-Mitarbeiter in den ersten ein bis zwei Tagen nach Ausbruch der Proteste die Polizei. Dies sei allein dem geschuldet, dass „die Aggressionen so massiv und schnell überhandgenommen hat und zum Selbstläufer wurden“, so Wunderlich. Auch wenn es derzeit noch immer vereinzelte Proteste gebe – die meisten würden friedlich und ohne größere Ausschreitungen vonstattengehen – rechnet Wunderlich in den kommenden Wochen mit einer Beruhigung der Situation.
Gemeinsamer Tenor
Als einzigartig beschreibt auch Katharina Novizky-Hosp die derzeitige Situation. Die 35-Jährige lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann Andreas Hosp, welcher für den Dornbirner Leuchtenhersteller Zumtobel in New York tätig ist, an der amerikanischen Ostküste. Die Marketing-Analystin über die seit zwei Wochen anhaltenden Proteste: „Die Menschen haben einen gemeinsamen Tenor hierzu: Sie verurteilen zutiefst, was hier passiert ist. Die Proteste formieren sich überall und laufen meist friedlich ab. Es gibt jedoch auch Ausnahmen, wie etwa in New York City. Hier kam es neben Brandstiftungen auch zu Plünderungen.“ Für so ein Vorgehen gebe seitens der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft jedoch kein Verständnis.

Gemäß Novizky-Hosp macht sich derzeit immer mehr bemerkbar, dass im November die Präsidentenwahlen anstehen. So nehme die Wahlkampfmaschinerie immer mehr an Fahrt auf und damit auch die Meinungsbeeinflussung. „Wurde die Polizei noch vor wenigen Wochen etwa noch als Helden der ,Essential Workers‘ gefeiert, steht sie derzeit massiv in der Kritik wie schon lange nicht mehr. Auf der einen Seite rühmt sich die Regierung mit Maßnahmenpaketen, welche einzigartig in der amerikanischen Geschichte wären. Auf der anderen Seite wird die Opposition nicht müde, ständig auf Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Daher wird es spannend sein, zu beobachten, welches Lager sich letztlich durchsetzen wird“, so Katharina Novizky-Hosp weiter.
Müde
Eines sei derzeit jedoch klar erkennbar: Die Menschen seien müde vom Eingesperrt-Sein und den täglichen „Bad News“. „Die Sehnsucht nach ,Socializing‘, einer positiven Zukunft und einem Weg in eine ,Normalität‘ ist klar erkennbar. Auch wenn es eine ,neue Normalität‘ werden wird“, erklärt Katharina Novizky-Hosp.

Angsteinflößend
In der New Yorker Bronx hat indes Sirin Samman ihre neue Heimat gefunden. Die Fotografin mit Vorarlberger Wurzeln berichtet, dass sich die Lage in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zwar beruhigt habe, „aber das letzte Mal, dass solch eine allgemeine Unsicherheit vorherrschte, war in den Tagen und Wochen nach dem 11. September 2001“. Gerade in den ersten Tagen der Proteste sei die Situation sehr furchteinflößend gewesen. „Man hörte die ganze Nacht die Hubschrauber fliegen und die Sirenen der Polizeiautos. Es war aber auch schön, zu sehen, wie am nächsten Tag die Gemeinde zusammenkam und gemeinsam den von den meist jugendlichen Randalierern angerichteten Schaden aufräumte. Als Sicherheitsvorkehrung haben mittlerweile die meisten Eigentümer von Geschäften ihre Schaufenster mit Holzbalken verbarrikadiert“, so Samman.
Ein Teil der Polizei würde gegen die Randalierer äußerst aggressiv vorgehen, weil ihnen eine extreme Aggressivität von den Protestierenden entgegenschlagen würde. Gemäß Samman wurden in New York zwei Beamte von einem Auto überrollt, woraufhin die Polizisten mit aggressiven Parolen („Shoot those motherfuckers“) reagiert hätten. Mitschnitte dieser Funksprüche kursierten sofort im Internet. „Es gibt aber auch genügend Polizisten, die ihre Helme abnehmen und sich solidarisch mit den Protesten zeigen, etwa indem sie auf die Knie gehen“, berichtet die Fotografin weiter.

Auch wenn es derzeit etwas ruhiger sei und die meisten Proteste friedlich vonstattengehen würden, seien dennoch „alle nervös“. Kaum jemand könne sich auf seine Arbeit konzentrieren, schildert die Fotografin ihre Eindrücke.
Langanhaltend
Dabei sei es, wie Samman weiter berichtet, durchaus nicht außergewöhnlich, dass es in den USA Proteste nach Polizeigewalt geben würde. Neu sei indes, dass diese so lange anhalten und mittlerweile weltweit stattfinden würden. „Seit ein paar Jahren ist zu beobachten, dass Beamte für ihr Fehlverhalten geradestehen müssen. Früher wurden Polizisten aufgrund von Gewaltakten kaum entlassen oder gar vor Gericht gestellt“, so Sirin Samman abschließend.