Eine ganze Republik in Todesangst

Mit Schrecken beobachtet Zaker Soltani Lage in seiner alten Heimat Afghanistan.
In Afghanistan spielen sich derzeit schreckliche Szenen ab. Was lösen die Bilder aus Ihrer alten Heimat in Ihnen aus?
Zaker Soltani: Die Nachrichten und Bilder der letzten Tage schnüren mir die Kehle zu. Die Afghanen haben ja die dunkle Zeit des Unrechtsregimes der Taliban erlebt, sie wissen, was sie erwartet. Die Menschen hier in Europa haben nur noch eine theoretische Kenntnis von Unfreiheit, aber keine eigenen Erfahrungen damit, was dies wirklich bedeutet. Seit 1945 herrschen im westlichen Raum Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Die Menschen in Afghanistan werden Unrecht und Unterdrückung als Lebensform erleben und eine Unfreiheit, die absolut sein wird. Jeder Versuch, dieser zu entfliehen, wird im Keim erstickt werden.

Haben Sie derzeit Kontakt zu Angehörigen in Afghanistan?
Soltani: Ich habe keine Familie mehr in Afghanistan. Mit Klassenkameraden aus meiner Schulzeit, die mittlerweile in Kabul und in anderen Provinzen des Landes leben, chatte ich über soziale Medien. Sie berichten, dass das Leben nach dem Einmarsch der Taliban plötzlich wie gelähmt scheint. Die Metropole Kabul verwandelt sich in eine Geisterstadt. Man wagt es nicht mehr, auf die Straße zu gehen. Man weiß nicht, wie es weitergehen soll. Alles ist ungewiss.

Viele Menschen aus Afghanistan haben Angst davor, über die Situation zu sprechen. Wieso haben Sie sich dazu entschieden, Ihre Eindrücke teilen zu wollen?
Soltani: Mit Freunden und Bekannten verschiedenster Nationalitäten über die aktuelle Lage zu sprechen, hilft mir sehr, denn der Schmerz ist schwer allein zu ertragen. Außerdem versuche ich, ein differenziertes Bild von Afghanistan zu bewirken. Es ist einerseits sehr belastend, was sich in unserem Land und in unserem Volk abspielt. Das macht traurig und zornig zugleich. Die Bilder, was mit unschuldigen Menschen – vor allem mit Frauen und Kindern – geschieht und geschehen wird, sind allgegenwärtig.

Und andererseits?
Soltani: Andererseits spüre ich die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Afghanen – auch hier in Österreich. Geschürt von bestimmten Massenmedien und Politikern, zum Beispiel von einem Innenminister, der nicht müde wird, in inszenierten öffentlichen Auftritten die Fortsetzung der Abschiebung von Afghanen zu fordern, um „ein Signal zu setzen“. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem in Kabul Militärmaschinen landen, um Menschen zu evakuieren und in Sicherheit zu bringen. Unter den derzeitigen Umständen plakativ gegen eine Gruppe von Menschen vorzugehen, finde ich nicht fair und nicht verantwortungsvoll. Politische Verantwortung ist ein zu wichtiges Thema, um es dem billigen Showeffekt zu opfern. Ich wundere mich oft, wie undifferenziert Menschen über einen Kamm geschoren werden

Abgesehen von dem Timing: Wie stehen Sie zu den Beweggründen der Abschiebungs-Debatte?
Soltani: Es ist leider richtig, dass in den letzten Monaten mehrere Straftaten von Afghanen begangen wurden. Jede Einzelne davon ist eine zu viel! Und ein schrecklicher Fall, wie jener des getöteten 13-jährigen Mädchens in Wien, hat niemanden mehr entsetzt als die afghanische Community in Österreich. Doch viele Medien nehmen alle hier lebenden Afghanen in Geiselhaft für die Verbrechen von Individuen und stigmatisieren eine ganze ethnische Gruppe, als ob wir alle die Tat begangen hätten. Für jede Straftat eines unserer Landsleute schämen wir uns kollektiv, doch wir sind nicht kollektiv dafür verantwortlich.

Könnten Sie sich noch vorstellen, jemals wieder nach Afghanistan zurückzukehren?
Soltani: Bis zu den Ereignissen der letzten Tage hegte ich die Hoffnung, eines Tages nach Afghanistan zurückkehren zu können und dort im Bereich von Bildung oder Kultur einen Beitrag zu leisten. Eine Rückkehr oder auch nur eine kurze Reise nach Afghanistan ist nach dem Drama der letzten Tage wohl in weite Ferne gerückt. Ab jetzt steht über dem Land meiner Geburt und meiner Kindheit nämlich, wie über dem von Dante beschriebenen Eingang zur Hölle: „Lasst jede Hoffnung schwinden, die ihr hier eintretet!“

Wie nahm die Leidensgeschichte Afghanistans unter den Taliban ihren Anfang?
Soltani: Das ist bereits der zweite Einmarsch der Taliban – nach der ersten Eroberung in den 1990er-Jahren, in der das Land unter den Mudschahedin aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die sich gegenseitig erbittert bekämpften, zerrissen worden war. Islamisten aus mehreren Ländern hatten sich in Pakistan zusammengetan und im Jahr 1994 die Terrorgruppe Taliban gegründet. Sie nutzten die fragile politische Situation in Afghanistan aus und stellten sich gegen die Mudschahedin, die bis zum Jahr 1996 das Land beherrschten.

Hätten Sie eine erneute Machtübernahme kommen sehen?
Soltani: Während man bei der ersten Machtergreifung durch die Taliban in den 1990er-Jahren das Land unter dem Regime der Mudschahedin als „failed state“ ansehen musste, in dem es damals nicht mehr viel schlimmer kommen konnte, befand sich Afghanistan nun doch seit Jahren auf dem Kurs einer gewissen Konsolidierung mit zaghaft positiver Zukunftsperspektive. Umso tiefer sitzt der Schock, dass diese Entwicklung innerhalb von nur zwei Wochen gestoppt wurde und nun für lange Zeit keine realistische Hoffnung auf eine bessere Zukunft besteht.

Wieso kam es Ihrer Meinung nach gerade jetzt und in so rasantem Tempo zu der Übernahme?
Soltani: Diese Eroberung, die wie ein Gewittersturm über das Land kam, hängt mit vielen Faktoren zusammen. Mit der Verkündung des Abzugs der amerikanischen Truppen begann sich Chaos im Land auszubreiten, die Menschen stürzten plötzlich in Ungewissheit und in Sorge um ihre Zukunft. Schon während der amerikanischen Präsenz in Afghanistan waren beträchtliche Teile des Landes unter Kontrolle der Taliban. In großen Städten wie Kabul oder Mazar-i Sharif kam es fast täglich zu Übergriffen und Attentaten, denen unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Der Staat war nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen und den Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit zu garantieren.

Wo erkennen Sie Versäumnisse der afghanischen Regierung?
Soltani: In der unfähigen und korrupten afghanischen Regierung gab es keine Einigkeit, keine Zielorientierung, keine Kompromissfähigkeit zwischen den Regierungsmitgliedern aus unterschiedlichen Volksgruppen. Die Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze waren zu stark. So konnte auch keine Verteidigungsstrategie gegen die Taliban zustande kommen.

Und dann?
Soltani: Mit dem Abzug der amerikanischen Soldaten ergriff defätistische Mutlosigkeit die afghanische Armee. Die Menschen hatten wenig Vertrauen in eine versagende Regierung, immer mehr machte sich Hoffnungslosigkeit breit. Viele wollten nur noch fort aus diesem Land, vor allem gebildete Menschen und Jugendliche sahen für sich keine Zukunftsperspektive mehr. Und ein kollektiver nationaler Wille, gegen eine Machtergreifung durch die Taliban aufzustehen und geschlossenen Widerstand zu leisten, konnte nicht entstehen. Dies hätte letztlich wohl auch in einer Niederlage und einem großen Blutbad geendet.

Was bedeutet die Machtübernahme durch die Taliban nun für die Menschen in Afghanistan?
Soltani: Die Übernahme der Macht durch die Taliban bedeutet den wohl extremsten Rückschritt in der Entwicklung des Landes, den man sich nur vorstellen kann. In den letzten 20 Jahren wurde nämlich viel Positives erreicht: Es wurden Wohnungen gebaut, die Infrastruktur verbessert, Frauen und Mädchen erhielten Zugang zu Bildung, Frauen durften arbeiten, ja sogar an politischen Entscheidungen teilnehmen, Kunst- und Kultureinrichtungen entstanden, es gab eine gewisse Pluralität in Presse und Fernsehen.

Doch diese Zeiten sind vorbei.
Soltani: Mit der Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan fürchte ich, dass all diese mühsam errungenen Fortschritte nun mit einem Schlag zunichtegemacht werden. Keine Selbstbestimmung mehr für Frauen, keine gleichberechtigten Bildungschancen für Mädchen, keine Meinungsfreiheit, keine Mitbestimmung, keine Gesetzgebung auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts. Auch für bi- und homosexuelle Menschen ist es eine Katastrophe: eine ganze Gruppe von Menschen darf nicht mehr ihre Identität ausleben. Das gesamte Leben – öffentlich und privat – wird der talibanischen Scharia unterworfen, die von Gewalt, Gleichschaltung und Unterdrückung geprägt ist. So meine Befürchtung.
