Zahlen wir uns die Steuerreform selbst?

Die kalte Progression mache ungefähr 500 Millionen Euro jährlich aus.
Vor der Nationalratswahl haben sich alle Parteien für eine Abschaffung der “kalten Progression” ausgesprochen. Die Forderung, diese passive, stetige Erhöhung der Lohnsteuerlast zu streichen, findet sich auch im Regierungsprogramm. Noch besteht sie aber weiter – und finanziert auch die aktuelle Steuerreform mit.
In der ZIB2 auf die Höhe der “kalten Progression” pro Jahr angesprochen, wird Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) etwas unwirsch: Die kalte Progression würde zwar über die nächsten Jahre einen Teil der Entlastung “wegfressen”, einige Milliarden pro Jahr seien aber “sicherlich falsch”. Die Schätzungen seien unterschiedlich, “es wird immer davon gesprochen, dass das ungefähr 500 Millionen Euro pro Jahr ausmacht”, erklärt Kurz. Die Aussage mag für einzelne Jahre stimmen, ist so pauschal aber irreführend.
Was ist die “kalte Progression”?
Denn die vielzitierte “kalte Progression” steigt schnell an. Der Begriff selbst beschreibt einen Verlust der Kaufkraft für Arbeitende durch das ansteigende Steuersystem und der Inflation. Der Effekt betrifft alle, die Einkommenssteuer oder Sozialversicherung zahlen. Daher sprachen sich vor der Wahl 2019 auch alle Parteichefs für eine Abschaffung aus.
In der Praxis bedeutet das: Nach einer Gehaltserhöhung wird durch die fixen Steuerstufen in Österreich ein größerer Teil des Einkommens (höher) besteuert. Bei gleichzeitig steigenden Preisen führt das dazu, dass man sich trotz Lohnerhöhung weniger leisten kann als zuvor – immerhin ist der tägliche Einkauf teurer geworden und mit der Gehaltserhöhung auch die Steuerlast gestiegen. Der Staat gewinnt somit Einnahmen, arbeitende Menschen verlieren an realer Kaufkraft.
Die Höhe hängt an der Inflation – und steigt jährlich
Von 2017 bis 2019 hatte die “kalte Progression” eine Höhe von 2,9 Milliarden Euro, berechnete die Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung (GAW) gemeinsam mit der Wiener WPZ 2020. 2017 betrug sie demnach 479 Millionen Euro, 2018 bereits fast eine Milliarde und 2019 beinahe 1,5 Milliarden. Ab 2018 war die “kalte Progression” demnach jedes Jahr deutlich höher als von Kurz beschrieben.
Der Anstieg liegt in der Natur der “kalten Progression”. Bis das Steuersystem geändert wird, erhöht sich der Betrag jedes Jahr deutlich, denn die Zusatzeinnahmen vom letzten Jahr bleiben dem Staat auch im nächsten. Die liberale Denkfabrik Agenda Austria gibt einen Richtwert: Pro Prozentpunkt Inflation sei in Österreich mit rund 250 Millionen Euro kalter Progression zu rechnen. Damit kommt man bei der Agenda seit der Steuerreform 2016 auf Zahlen, die denen des Kanzlers ähnlicher sind: 2017 wäre demnach bei relativ geringer Inflation die Steuerlast durch die “kalte Progression” um rund 200 Millionen Euro gestiegen, 2018 um 600 Millionen und 2019 bereits um mehr als eine Milliarde Euro – pro Jahr.
Blick in die Zukunft
Das sozialliberale Momentum Institut hat bereits die Entwicklung der “kalten Progression” für die nächsten Jahre prognostiziert. Bereits 2024 würde sie demnach mehr als 650 Millionen Euro in das Budget einspielen. Ohne weitere Eingriffe in das Steuersystem winken dem Staat Mehreinnahmen in der Höhe von insgesamt 7,8 Milliarden Euro bis 2028. Bereits in fünf Jahren wäre die Erleichterung durch die aktuelle Steuerreform demnach schon wieder von der “kalten Progression” “aufgefressen”. Momentum rechnet dabei mit einer höheren Inflation als in den vergangenen Jahren.
Fazit
Auch wenn die genaue Höhe der jährlichen Mehreinnahmen zur Diskussion steht, ist klar: Die “kalte Progression” pauschal bei 500 Millionen Euro zu klassifizieren, ist irreführend. Die Höhe der staatlichen Mehreinnahmen hängt direkt mit der Inflation zusammen – und wird ohne Eingriffe in das Steuersystem von Jahr zu Jahr höher.
Wird sie nicht abgeschafft, dürften die “kalte Progression” bereits in wenigen Jahren wieder deutlich über dem vom Kanzler genannten Wert liegen – und auch die nächste Steuerreform wieder zu großen Teilen von den Einkommenssteuerzahlern mitfinanziert werden.