Wenn sich das System der Schieflage nähert

Professor Christoph Bezemek über den Begriff Unschuldsvermutung.
Die „Unschuldsvermutung“ wurde zwar zum geflügelten Wort der Innenpolitik, aber die wenigsten dürften wohl wissen, was dieser Begriff tatsächlich bedeutet. Ist es eine Art zeitlicher Radiergummi?
Christoph Bezemek: Die Unschuldsvermutung begegnet uns auf mehreren Ebenen der österreichischen Rechtsordnung. Zunächst einmal ist sie eine grundrechtliche Schutzposition des oder der Einzelnen im Bereich des Strafrechts. Artikel 6, Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention legt fest, bis zum gesetzlichen Schuldnachweis wird vermutet, dass jemand, der wegen einer strafbaren Handlung angeklagt ist, unschuldig ist. Das heißt zunächst einmal, die Verfolgungsbehörde hat den Schuldbeweis zu erbringen, der Angeklagte muss nicht seine Unschuld nachweisen. Das bedeutet, dass auch das Organ, das letztlich über Schuld oder Unschuld zu befinden hat, nicht von der Überzeugung geleitet sein darf, der Angeklagte habe die vorgeworfene Tat auch begangen.
Aber kann man sich mittels Pochen auf die Unschuldsvermutung über das, was offenkundig ist, hinwegschwindeln? Wenn zum Beispiel hundert Leute sehen, wie eine Person eine andere schlägt, kann das ja nicht heißen, dass erst ab einem rechtskräftigen Urteil feststeht, dass jemand geschlagen wurde. Geht es nicht eher darum, ob das, was geschehen ist, auch einer Person als schuldhaftes Handeln zurechenbar ist? Also die Tat selbst nicht zur Diskussion stehen muss?
Bezemek: Es ist die persönliche Vorwerfbarkeit eines Verhaltens, wenn eine bestimmte strafbare Handlung, sei es vorsätzlich, sei es fahrlässig, in verwertbarer Weise verwirklicht wurde. Schuldfähig ist dementsprechend nur jemand, von dem angenommen werden kann, dass er oder sie auch willentlich agiert.
Kommen wir zum Kern – die im Zuge der staatsanwaltlichen Ermittlungen bekannt gewordenen Handy-Chats befeuerten diese Debatten über die Unschuldsvermutung. Ein Teil dieser Chats liegt offen, auch wer sie schrieb. Strafrechtlich gilt die Unschuldsvermutung, aber die Chats werden dadurch vorerst nicht wegradiert. Müssten wir deshalb trotzdem vielleicht Jahre darüber schweigen, bis in einigen Jahren ein rechtskräftiges Urteil vorliegt?
Bezemek: Hier ist die Frage, wie die Medien in die Pflicht zu nehmen sind, entsprechend ausgewogen zu berichten, jenseits des Satzes „es gilt die Unschuldsvermutung“, der ja zum Teil im höchsten Maße problematisch ist. Die Berichterstattung hat sicherzustellen, im Fall von polizeilichen Ermittlungen oder strafrechtlichen Anklagen, dass sie insgesamt sachlich erfolgt und keine Vorverurteilung stattfindet. Das ist Ausfluss dessen, was wir juristisch betrachtet als staatliche Schutzpflicht aus dem Grundrecht bezeichnen. Der Staat hat auch die Medien in die Pflicht zu nehmen, das tut er auch konkret mit § 7b des Mediengesetzes, das der Berichterstattung das notwendige Maß an Sachlichkeit auferlegt.
Da wird es dann jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte geben, welcher ist dann richtig?
Bezemek: Man kann es immer nur im Einzelfall beurteilen, ob es geglückt ist. Eine Gratwanderung zwischen der Unschuldsvermutung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Weil natürlich die Öffentlichkeit auch ein legitimes und verdichtendes Informationsinteresse hat. Und je clamoroser ein Fall ist, umso höher das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. In jedem Fall gilt es, beide Rechtsgüter abzuwägen.
Gerade den brisanten Chats, die zum guten Teil Staatsgeschäfte betreffen, kann man wohl nicht absprechen, eine wichtige Information für das Wahlvolk zu sein …
Bezemek: Wir müssen zwei Dinge differenzieren: das berechtigte Informationsinteresse der Öffentlichkeit unter dem Titel der freien Meinungsäußerung und die Rechtspositionen, die eine Person hat, insbesondere aus dem Recht auf Privat- und Familienleben. Nicht alles, was die Öffentlichkeit interessiert, ist deshalb schon von öffentlichem Interesse.
Aber wenn eine politische Bewertung der Handy-Unterhaltungen erfolgt, kommt der Einwand „Unschuldsvermutung“. Darf das Strafrecht Debatten über politische Verantwortung verzögern?
Bezemek: Man kann einmal vorausschicken, dass das Strafrecht kein geeignetes Instrument ist, um Politik zu machen. Gerichtsverfahren taugen nicht als Arena der politischen Auseinandersetzung und sollen dementsprechend vor der politischen Auseinandersetzung geschützt werden. Jetzt ist es so, besonders strafgerichtliche Verfahren finden nicht in einer Blase statt und sind unserer Realität nicht entrückt. Wir müssen danach trachten, die politische Sphäre, das Informationsinteresse in Einklang zu bringen mit dem, was das Strafverfahren an Garantien ummantelt. Das ist der Aushandlungsprozess, in dem wir uns bewegen. Die Antwort ist kein Entweder-oder. Das sind jeweils andere Spiele mit jeweils anderen Regeln. Aber um beide in ihrer jeweiligen Funktionsfähigkeit zu erhalten, gilt es, die Spielregeln zu befolgen.
Werden diese Spielregeln derzeit eingehalten?
Bezemek: Das ist fast eine Suggestivfrage. Die Rechtsordnung kann in ihrem Funktionsanspruch nur dann bestehen, wenn es das notwendige Maß an Anstand, an Courage und auch das notwendige Maß an Zurückhaltung gibt. Wenn man der Versuchung der Instrumentalisierung erliegt, das eine gegen das andere auszuspielen, dann kommt das ganze System in eine Schieflage. Und diese Schieflage ist denkbar ungünstig, was die Anspruchshaltung des Rechtsstaats einerseits und die des politischen Diskurses auf der anderen Seite anlangt.
Haben wir die Schieflage erreicht?
Bezemek: Ich glaube, wir sind derzeit in einer Phase, in der diese Gefahr näher ist, als sie es bisher war. Man muss aufpassen, wenn man will, dass das System zukunftstauglich bleibt.
Zur Person
Christoph Bezemek ist Professor am Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz und seit 2019 Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. In den Jahren davor lehrte er in Addis Abeba, an der Universität Pisa, in Mexiko, in Wien, Jena und Zagreb.