„Europäische Geschichte auf einem Raum“

Der Historiker Werner Bundschuh war einige Male in der Ukraine.
“Nein, es gibt derzeit keine Kämpfe in Rovenki. Sie haben das Öldepot in die Luft gesprengt, sie sagen, dass der Punkt umkämpft ist, aber ich kann es nicht glauben. … Es ist gefährlich, hier seine Meinung zu äußern, man kann Russland hier nur gutheißen. Wir arbeiten, aber die Kinder lernen nicht. Einige Familien sind gegangen. Es gibt Lebensmittel, Benzin, Strom, Gas, Apotheken arbeiten. Es gibt Probleme mit Wasser, aber wir sind daran gewöhnt. Krankenhäuser nehmen keine Patienten mehr auf. Alle haben COVID vergessen. Krieg. Die Männer wurden mobilisiert. Die Stadt ist halb leer. … Ich mache mir große Sorgen um meine Verwandten und Freunde …“, hat die Ukrainerin Elena Ushakova vor einigen Tagen an den Dornbirner Historiker Werner Bundschuh geschrieben. Die Mathematikerin und Schuldirektorin lebt in der 45.000-Einwohner-Stadt Rovenki in der Ostukraine, jenem Teil des Landes, der seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird.
“Historischer als wahrgenommen”
Bundschuh forscht seit Langem zu ukrainischen Zwangsarbeitern während der NS-Zeit in Vorarlberg und hat Ushakova in diesem Zusammenhang vor Jahren kennengelernt. Sie ist seither seine Kontaktperson in der Ukraine. 2014 hat sie ihre damalige hohe Position in der Stadtverwaltung und im Schuldienst verloren. Später wurde sie wieder Direktion an einer weit weniger renommierten Schule als zuvor. Bundschuh war einige Male in der Ukraine, zuletzt 2016. Eine ukrainische Delegation war 2008 auch in Vorarlberg und bei ihm zu Hause zu Gast. Den jetzigen Krieg betrachtet er so wie viele andere mit großer Sorge. Er weist diesbezüglich auf die wechselvolle Geschichte der Ukraine hin, denn „der Konflikt ist viel historischer als er wahrgenommen wird“.

Als einen Ausgangspunkt sieht er die drei Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhundert, als Teile Polens und der Westukraine zum Habsburgerreich kamen, der Osten unter russische Vorherrschaft und der Norden unter preußische. „Die Geschichte der Ukraine ist eng verwoben mit dem Hause Habsburg“, so der Historiker – Stichwort Galizien, das Teile Südpolens und der Westukraine umfasste und in der Literatur mit großen Namen wie Joseph Roth oder Paul Celan verbunden wird.
“Schlachtfeld”
Die vielerorts entstehenden Bestrebungen nach einem Nationalstaat im 19. Jahrhundert machten dann auch vor der Ukraine nicht Halt. Ein prominenter Vertreter eines ukrainischen Nationalgedankens war etwa der in Galizien geborene Schriftsteller und Aktivist Iwan Franko. „Polen, Russen, Deutsche, Juden und viele anderen Nationalitäten lebten damals in diesem konfliktbehafteten Raum“, erläutert Bundschuh. Ein Raum, der im Ersten Weltkrieg zum „Schlachtfeld“ wurde.

Nach dem Krieg wurde die erste kurzlebige ukrainische Republik ausgerufen, die schon 1922 Teil der Sowjetunion wurde. Ein einschneidendes Erlebnis war die ab Ende der 1920er-Jahre erfolgte Zwangskollektivierung der Landwirtschaft auch in der „Kornkammer“ Ukraine, die zu einer Hungersnot führte. Sie kostete Millionen von Menschenleben und ging als „Holodomor“ in die Geschichte ein. Im Zweiten Weltkrieg wurde dann besonders im Westen der Ukraine darauf gehofft, mit Hilfe der deutschen Armee wieder zu einem Nationalstaat zu kommen. Nach 1945 gab es dann auf dem jetzigen ukrainischen Gebiet sogar einen Guerillakrieg gegen die sowjetischen Machthaber, erzählt Bundschuh.
Geschichtsnarrativ
1991 erlangte die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion erneut ihre Unabhängigkeit. „Es entsteht eine Republik, die nur funktionieren kann, wenn es gelingt, ein gemeinsames Geschichtsnarrativ zu finden“, sagt Bundschuh. Während die Westukraine stark vom Habsburgerreich geprägt sei, finde sich im Osten viel stärker ein zaristischer Einfluss, analysiert der Historiker. Das äußere sich auch am Anknüpfen an unterschiedliche Narrative.
„Putins Bezugspunkt ist nicht die Sowjetunion, sondern das zaristische Russland”
Werner Bundschuh, Historiker
Als eine weitere, problembehaftete Schiene sieht Bundschuh den religiösen Aspekt, nachdem es in der Ukraine eine Spaltung in mehrere Kirchen gibt. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die „Unierte griechisch-katholische Kirche“, die seit dem 16. Jahrhundert existiert. „Der seit Jahrhunderten andauernde religiöse Konflikt spielt heute eine große Rolle“, ist er überzeugt – nicht zuletzt deswegen, weil sich der Patriarch von Moskau, Kyrill I., bedingungslos hinter Putin stellt. Eine Schlüsselrolle spielt auch die Krim, sagt der Historiker. Dort kämpfte Russland im 19. Jahrhundert im Krimkrieg gegen den „Westen“ – ein symbolträchtiger Ort, der seitdem ideologisch aufgeladen ist.
Begegnungen
Seit 1998 befasst sich Werner Bundschuh gemeinsam mit Margarethe Ruff mit ukrainischen Zwangsarbeitern in Vorarlberg. Von der Literatur her kannte er die Westukraine, das Kronland Galizien, mit der Hauptstadt Lemberg. Damals kam er dann erstmals in die Ostukraine in die Städte Luhansk und Rovenki, wo viele der ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen lebten. Er hat mit Ukrainern gesprochen, die während der NS-Zeit in Vorarlberg bei den Illwerken, in Textilfabriken und in vielen anderen Betrieben als Zwangsarbeiter eingesetzt waren und auch jene Frau getroffen, die als Dienstmädchen im Hause des damaligen Dornbirner NS-Bürgermeisters zwangsverpflichtet war.

2008 kam eine Delegation von ehemaligen Zwangsarbeitern und offiziellen Vertretern nach Vorarlberg. Im selben Jahr gab es in Rovenki ein „Fest der Versöhnung“. 2016 stellte Margarethe Ruff mit Bundschuh in Lviv (Lemberg) die ukrainische Übersetzung von „Minderjährige Gefangene des Faschismus. Lebensgeschichten polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Vorarlberg“ vor. Hierzulande galten die Ukrainer immer als „die Russen“, erzählt der Historiker. Rund ein Dutzend dürfte es sein, die auch nach 1945 in Vorarlberg geblieben sind, schätzt er.
Bild vom Zar
In der Ukraine sieht Bundschuh die „ganze europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Massakern auf einem Raum“. Ein sich ständig ändernder Schauplatz, der nicht zur Ruhe kommt. Und wieder einmal greift Russland mit brutaler Gewalt nach der Macht im Land. „Putins Bezugspunkt ist aber nicht die Sowjetunion, sondern das zaristische Russland“, glaubt Bundschuh. Im Arbeitszimmer des Kreml-Chefs hängt ein Bild von Zar Nikolaus I., erzählt er. Der war zwischen 1825 und 1855 Zar von Russland und zwischen 1825 und 1830 letzter gekrönter König von Polen.