„Special Edition“ Michael

Heute ist Welt-Aspergertag. Michael Müller ist ein Betroffener.
Michael Müller, bald 13 Jahre alt, kann eine Geschichte, die ein Lehrer in der Schule erzählt hat, zuhause Wort für Wort nacherzählen. Er weiß jedoch nicht auf Anhieb, wieviel drei mal vier ergibt. Hört er einen fremdklingenden Namen, wie beispielsweise einen indischen, spricht er ihn sogleich richtig aus. Schön mit Messer und Gabel zu essen, will ihm aber noch nicht so recht gelingen. Michael liebt alles, was Räder hat. Wenn er Züge sieht, drückt er die Freude darüber durchaus mal mit einem Tanz aus. Dass ein lachender Mensch Freude empfindet, wusste er früher aber nicht. Das musste ihm seine Mutter Sabine Müller erklären. Man sieht es ihm nicht an, aber Michael hat das Asperger-Syndrom. Oder anders gesagt, wie seine Mutter es ihm gegenüber ausdrückt: Er ist eine „Special Edition“.
Ausprägung und Merkmale verschieden
Das Asperger-Syndrom zählt zum Autismus-Spektrum und ist eine Wahrnehmungsbeeinträchtigung. Sie geht oft einher mit mangelndem Einfühlungsvermögen und der Schwierigkeit, sich sozial treffsicher zu verhalten. Vielfach haben Menschen mit Asperger motorische Schwierigkeiten, weswegen sie oft ungeschickt erscheinen. Die Ausprägungen und Merkmale unterscheiden sich bei vielen Betroffenen, es gibt jedoch einige klassische Merkmale: Viele Asperger halten zu fremden Menschen mangelnden Blickkontakt, sie nehmen alles wortwörtlich und sie tun sich schwer mit Unvorhersehbarem; sie mögen und brauchen Strukturen. Einige Menschen mit Asperger können durchaus ein eigenständiges Leben führen, Familie haben und beruflich vorankommen. Die Intelligenz der Betroffenen ist im Allgemeinen normal bis hoch, oft haben sie ungewöhnliche Sonderinteressen (mehr Infos über Asperger siehe Artikel unten).

Abklärung schwierig
Als Michael ein Baby war, ist seinen Eltern nichts aufgefallen. Erst mit zwei Jahren, als er in der Kinderbetreuung war, hatte eine Betreuerin den Verdacht, dass er Autist sein könnte. Denn er war anders als andere Kinder, suchte nicht deren, sondern die Nähe von Erwachsenen, und er konnte bestimmte Dinge, die Gleichaltrigen leichtfielen, noch nicht. Für die Eltern begann daraufhin eine Odyssee, da Michael zur Abklärung von einer Stelle zur anderen geschickt wurde. Als er vier Jahre alt war, war immer noch unklar, was mit ihm los ist, und er wurde zunehmend aggressiver: Wenn ihm etwas zu viel wurde, schlug er sich selbst. Durch die Empfehlung einer Bekannten gelangten Müllers schließlich zu einem Psychologen. Er stellte Autismus bei Michael fest. Die Diagnose „Asperger“ erhielt er schließlich beim Fachbereich Autismus im Aks. Damals war das Einzelkind fünf Jahre alt; es hatte also fast drei Jahre gedauert, bis Müllers wussten, was mit ihrem Sohn los ist.
Es folgten viel Lektüre über das Asperger-Syndorm und ein stetiges Lernen, wie mit Michael umzugehen ist. „Ich habe die Welt des Autismus durch meinen Sohn kennengelernt. Er zeigt mir seine Welt und ist der größte Lehrmeister, den ich hatte“, sagt die Mutter und ergänzt: „Diese Welt ist ganz anders und spannend und anstrengend.“
Viele Dinge erklären
Umgekehrt erklärt aber auch Sabine Müller ihrem Sohn die Welt, nämlich die der neurotypischen Menschen: „Vieles, was wir in die Wiege gelegt bekommen, weiß Michael nicht.“ Er muss beispielsweise lernen, wie man ein Gespräch führt oder wie man sich mit bestimmten Menschen und an bestimmten Orten zu verhalten hat. Weshalb ein Kind weint, war Michael ebenfalls nicht klar, bis seine Mutter es ihm erklärt hat.
Eine große Hilfe war und ist für Sabine Müller die Selbsthilfegruppe von Eltern mit Asperger-Kindern (Kontaktinfos am Ende des Artikels). Dort trifft sie Eltern mit denselben Problemen. „Es tut so gut, nicht allein zu sein“, sagt sie. Nach außen wirken Asperger-Kinder oft nicht erziehbar und benehmen sich daneben, in der Selbsthilfegruppe versteht jeder, wie die anderen Eltern sich dadurch fühlen, und können sich in die Situation, die eine Mama oder ein Papa erzählt, hineinversetzen. Außerdem kann der Einzelne durch den Austausch Tipps für sich und seinen Umgang mit dem eigenen Kind mitnehmen.
Pilotprojekt Kleinklasse. Michael geht in Klaus in eine Regelschule, wird dort aber in einer Kleinklasse mit fünf anderen Kindern, die spezielle Bedürfnisse haben, von Fachpersonal betreut. Diese Kleinklasse ist ein Pilotprojekt. Es entstand, weil vor einem Jahr plötzlich der Lern- und Sprachraum in Rankweil, in dem auch Michael unterrichtet wurde, schloss. „Ich hoffe, dass mehrere Schulen dieses Projekt übernehmen“, sagt Sabine Müller. Denn sie findet es wichtig, dass ihr Sohn, aber auch andere Kinder mit speziellen Bedürfnissen in der Nähe der Heimat bleiben können und nicht abgesondert werden.
Unbedingt Hilfe suchen
Anderen Eltern, die den Verdacht oder die Diagnose Asperger haben, rät sie: „Unbedingt Hilfe suchen, zum Beispiel bei unserer Elterngruppe. Dort erhält man auch Tipps, wohin man sich wenden kann.“ Wichtig findet die Mutter zudem, offen mit dem Asperger-Syndrom umzugehen. „Wenn man es anspricht, funktioniert vieles leichter.“
Selbsthilfe
Asperger-Treff für Eltern, andere Verwandte (Geschwister) sowie Interessierte in der Selbsthilfe Dornbirn, Schlachthausstraße 7c. Nächste Termine: Dienstag, 17. Mai, und Dienstag, 19. Juli, jeweils 20 Uhr. Um Anmeldung wird gebeten: Lisi Gehrer, Tel. 0664 6529895.
Der Verein Autistenhilfe Vorarlberg basiert auf ehrenamtlichen Mitarbeitenden mit fundiertem Wissen und Erfahrung im Bereich Autismus. Er organisiert Fort- und Weiterbildungen zum Thema Autismus und bietet dreierlei Treffen an:
– für Eltern von Kindern mit frühkindlichem Autismus
– für Eltern von Kindern mit Asperger-Syndrom
– für Personen mit Asperger-Syndrom im Sinne der Selbsthilfe
Kontakt: Renate Vogel, Tel. 0650 4674341, www.autistenhilfe-vorarlberg.at
Nicht jeder Asperger ist wie Greta Thunberg
Renate Vogel hat eine autistische Pflegetochter, gründete vor 28 Jahren den Verein Autistenhilfe Vorarlberg und arbeitete viele Jahre bis zu ihrer Pensionierung im Fachbereich Autismus beim Aks. Sie hat Erziehungswissenschaften studiert und eine Autismusausbildung absolviert. Sie gilt auch als Fachfrau für Asperger-Autismus in Vorarlberg.
Was ist Asperger?
Renate Vogel: Es gehört zum großen Spektrum Autismus und geht mit normaler bis hoher Intelligenz einher. Im Unterschied zu frühkindlichem Autismus haben viele Kinder mit Asperger-Syndrom eine normale oder sehr frühe Sprachentwicklung mit einem guten Wortschatz. Die soziale Kommunikation und Interaktion fällt Menschen mit Asperger aber schwer. Sie kennen unausgesprochene soziale Regeln nicht, sie können sie jedoch lernen. Das ständige Lernen von Regeln, die neurotypische Menschen einfach intus haben, ist aber anstrengend. Oft sind Menschen mit Asperger-Syndrom sehr sensibel. Wenn Lärm oder zu viel Trubel herrschen, kann es zu einer Überreizung kommen. Beispielsweise kann für einen Betroffenen das Einkaufen im Supermarkt sehr anstrengend sein, weil dort viele Menschen sind, Musik läuft und es ein großes Warenangebot gibt. Asperger ist eine sogenannte unsichtbare Beeinträchtigung. Das heißt, andere Menschen sehen die Beeinträchtigung nicht, stutzen dann aber, wenn das Verhalten eines Aspergers ungewöhnlich ist. Die Ausprägung und Merkmale des Asperger-Autismus können bei jedem Betroffenen ganz unterschiedlich sein. Es gibt nicht den einen Asperger. Die einen sind mehr beeinträchtigt, die anderen weniger.

Was ist die Ursache von Asperger?
Vogel: Darauf hat die Wissenschaft noch keine eindeutige Antwort gefunden. Man ist immer noch am Forschen.
Wird das Asperger-Syndrom behandelt?
Vogel: Man kann es medizinisch nicht behandeln. Betroffene können ein Sozialkompetenztraining machen oder mit einem Psychotherapeuten lernen, wie der Alltag gemeistert werden kann.
Wohin können sich Betroffene in Voralberg wenden?
Vogel: Bei Erwachsenen wird Asperger im LKH Rankwei in der Autismusambulanz abgeklärt, bei Kindern bis 18 Jahre bei den Kinderdienststellen im Aks. Die Diagnose wird sehr genau und in einem umfangreichen Verfahren gemacht. Begleitung für Asperger bieten das Aks, das Ifs und Pro Mente.
Klimaaktivistin Greta Thunberg hat auch Asperger. Hilft das, diese Beeinträchtigung bekannter zu machen?
Vogel: Das schon. Man muss jedoch aufpassen, dass nicht Bilder verbreitet werden, wie „Asperger sind schräg oder Genies.“ Es gibt so viel dazwischen.