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Die Opposition muss Zähne zeigen

04.06.2023 • 16:04 Uhr
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Stiplovsek

Grünen-Landtagsabgeordnete Vahide Aydin über die Präsidentschaftswahl in der Türkei.

Recep Tayyip Erdogan hat die Wahl der Türkei gegen Kemal Kilicdaroglu gewonnen. Wie sehen Sie den Ausgang?
Vahide Aydin:
Den Ausgang habe ich vorhergesehen, auch wenn ich keine Wahrsagerin bin (lacht). Ich habe schon vor der Wahl gesagt, dass Kilicdaroglu nur wenig Chancen haben wird. Er hat – im Gegensatz zur damaligen Regierung – versucht, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Allerdings ist es der Allianz der sechs Oppositionsparteien nicht gelungen, die eigenen Wähler dazu zu bringen, zur Wahl zu gehen und für Kilicdaroglu zu stimmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Bündnis eine sehr heterogene Gruppe ist – von ganz links bis ganz rechts, von konservativ bis nationalistisch. Vor dem zweiten Wahlgang hat Kilicdaroglu auch eine Wendung vollzogen.

Inwiefern?
Aydin:
Er war ultra-nationalistisch unterwegs, beispielsweise mit seiner Aussage, dass die Flüchtlinge weg müssen. Ich denke, dass das dazu geführt hat, dass die Wähler vom linken Flügel eher zuhause geblieben sind. Vor dem ersten Wahlgang hat Kilicdaroglu gesagt, dass sich Europa nicht von der Flüchtlingsfrage freikaufen darf, und alle gemeinsam an einer Lösung arbeiten müssen. Dann ist er aber gekippt und hat gesagt, die Flüchtlinge werden rückgeführt, um die Stimmen der Ultra-Nationalisten zu bekommen. Erdogan hat daraufhin gesagt, dass bereits 500.000 zurückgeführt worden seien. Ob das stimmt, lässt sich nicht sagen, aber es hat gewirkt. Außerdem hat Erdogan als langjähriger Präsident den Verwaltungsapparat und die Medien für sich genutzt. Er hat den starken Mann gespielt, und die Bevölkerung hat ihm geglaubt.

Recep Tayyip Erdogan wurde als Präsident der Türkei wiedergewählt. <span class="copyright">Reuters</span>
Recep Tayyip Erdogan wurde als Präsident der Türkei wiedergewählt. Reuters

Hat die Opposition Fehler gemacht? War Kilicdaroglu der richtige Kandidat.
Aydin:
Es hieß ja immer, dass der Bürgermeister von Istanbul (Anmerkung: Ekrem Imamoglu) ein geeigneter Kandidat gewesen wäre. Allerdings hat man ihn vor der Wahl mit einer Gerichtsverhandlung „ausgeschaltet“. Ansonsten gab es aus meiner Sicht keinen Kandidaten. Kilicdaroglu hat es geschafft, die sechs sehr unterschiedlichen Parteien zusammenzubringen. Allerdings haben deren Verantwortliche es nicht geschafft, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Sie müssen schauen, welche Fehler sie gemacht haben. Alles Kilicdaroglu zur Last zu legen, finde ich nicht richtig. Jetzt geht es darum, zu überlegen, wie es in den nächsten fünf Jahren mit der Türkei weitergeht. Die Parteien müssen eine gute Oppositionspolitik machen und sich profilieren. Wenn Erdogan die aktuellen Herausforderungen nicht meistert, hätte die Opposition dann bei der nächsten Wahl gute Chancen. Es braucht dann aber eine andere Führungsperson.

Zur person

Vahide Aydin wurde am 3. Oktober 1968 in Elbistan in der Türkei geboren. Im Alter von zehn Jahren ist sie nach Vorarlberg gekommen. Heute lebt die Diplom-Sozialarbeiterin in Dornbirn. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Seit dem Jahr 2000 engagiert sie sich bei den Grünen. 2009 wurde Aydin erstmals als Abgeordnete in den Vorarlberger Landtag gewählt.

Warum?
Aydin:
Kilicdaroglu ist ein aufrichtiger Politiker. Leider Gottes zählt Aufrichtigkeit allgemein in der Politik nicht viel und das kann manchmal auch fatal sein. Während des Wahlkampfs hat er die Unterstellungen und Angriffe gegen seine Person zu wenig kommentiert, dies gab den Anschein er weiche mancher wichtigen Konfrontation aus, anstatt ihr direkt gegenüberzutreten. In so einem politischen Klima wie es die Türkei gerade hat und der Übermacht des Gegners, reichte der gemäßigte Ton Kilicdaroglus leider nicht aus. Ich denke es hätte wohl einen etwas „aggressiveren“ Stil gebraucht, man hätte lauter sein müssen, Angriffen und Gerüchten nicht so viel Zeit geben dürfen, bevor sie überhaupt kommentiert wurden. Einen Stil des „Wir lassen uns das nicht mehr Gefallen und Sprechen es an“. Während Erdogan gehetzt und die Menschen auseinanderdividiert hat, hat Kilicdaroglu zu vieles ignoriert und überhört. Es bräuchte jemanden, der der Regierung lautstark die Stirn bietet, der dieses Verhalten aufzeigt und ihr nicht den dankenden Dienst erweist solch ein Vorgehen zu überhören. Dann hätte die Türkei eine Chance, sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Denn es gibt viele Themen, die beackert werden müssten – von der Wirtschaft über die Bildung bis hin zur Arbeitslosigkeit.

Kemal Kilicdaroglu war aus Sicht von Aydin ein durchaus guter Kandidat für die Opposition. <span class="copyright">AFP</span>
Kemal Kilicdaroglu war aus Sicht von Aydin ein durchaus guter Kandidat für die Opposition. AFP

War das Thema bei der Wahl?
Aydin:
Diese Themen wurden bei der Wahl nicht angesprochen. Es ging viel mehr darum die Menschen auseinanderzudividieren und sie in Gläubige und Ungläubigen oder Patrioten und Verräter einzuteilen. Die Türken sind – auch wegen ihrer Geschichte – sehr patriotisch unterwegs. Es war eher ein Thema, ob das Vaterland in Gefahr ist oder die Religion diffamiert wird. Die Frage, ob die Menschen mit ihrem Einkommen auskommen, blieb im Hintergrund. Dabei ist das Leben in der Türkei derzeit sehr schwer. Die Menschen, mit denen ich spreche, berichten, dass sie sich vieles nicht mehr leisten können. Zugleich geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Die Mittelschicht gibt es kaum mehr. Denn diejenigen, die es sich leisten können, gehen weg. Wer es sich nicht leisten kann, findet sich damit ab, dass es eben „Kismet“ – also der Wille Gottes – ist. Das wird den Menschen auch von der Regierung so suggeriert.

In den Erdbebengebieten brauchen die Menschen noch Hilfe, erläutert die Landtagsabgeordnete. <span class="copyright">AP</span>
In den Erdbebengebieten brauchen die Menschen noch Hilfe, erläutert die Landtagsabgeordnete. AP

Wie sehen Sie die türkische Außenpolitik? Man ist ja überall irgendwie ein bisschen dabei, aber gleichzeitig auch nicht.
Aydin:
Das ist die Strategie, die Erdogan verfolgt, und er ist sehr geschickt darin. Hinter den Kulissen kann er den „kleinen Mann“ spielen, aber danach stellt er sich nach außen hin als „starken Mann“ oder „Macher“ dar, der Europa oder den USA die Stirn bietet. Er muss aber mit allen können, weil er das Geld für die Wirtschaft braucht, und die Türkei Nato-Mitglied ist. Mit Gleichgesinnten wie Wladimir Putin oder Viktor Orban versteht er sich ohnehin. In dieser Beziehung ist Erdogan wie ein Chamäleon, das die Farbe wechselt, wie es das gerade braucht.

Wie sollte man damit umgehen?
Aydin:
Europa hat meiner Meinung nach den Zug verpasst, um Erdogan zu zügeln. Mittlerweile ist er seit 20 Jahren an der Macht und hat diese seitdem vergrößert. Zu Beginn wäre er besser zu handeln gewesen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz war sogar der erste, der Erdogan nach der Stichwahl gratuliert hat – und das nicht mit Worten wie „Gratuliere, aber schauen Sie, dass die Menschenrechte eingehalten werden“. Dabei sitzen in der Türkei Journalisten und Oppositionspolitiker im Gefängnis, nur weil sie ihre freie Meinung geäußert haben.

Die heimische WIrtschaft dürfte dem Präsidenten Sorgen bereiten. <span class="copyright">AP</span>
Die heimische WIrtschaft dürfte dem Präsidenten Sorgen bereiten. AP

Wie sehen Sie die Zukunft der Türkei?
Aydin:
Ich bin gespannt, wie Erdogan nun die Kurve kratzen will, damit er der Präsident von 100 Prozent des Landes ist, obwohl er nur von 52 Prozent gewählt wurde. Die Menschen müssen miteinander vereint werden und nicht auseinanderdividiert. Dazu müssen die wichtigen Themen angegangen werden. Er muss die Inflationsrate von über 85 Prozent in den Griff bekommen. Da wird es nicht reichen, nur immer wieder den Mindestlohn zu erhöhen. In den Erdbebengebieten warten die Menschen immer noch auf Lösungen. Erdogan muss diese Herausforderungen bewältigen, Akzente setzen und in die Menschen investieren. Außerdem braucht es eine Opposition, die Zähne zeigt, und nicht zulässt, dass eine Person so tun kann, als würde ihr das Land gehören. Wenn all das passiert, erhoffe ich mir, dass es den Menschen in der Türkei wieder besser geht.

Bisher war es jedoch für Erdogan nicht nötig, ein Präsident für alle Wählerinnen und Wähler zu sein. Warum sollte sich das nun auf einmal ändern?
Aydin:
Das stimmt. Notwendig war es nicht, weil er seine fixe Wählerschaft hat. Allerdings ist er ein Stratege, und in seiner Antrittsrede hat er gesagt, er sei nicht nur der Präsident der 52 Prozent, sondern von allen. Die Kluft zwischen den Lagern ist jedoch sehr tief. Hier wieder tragfähige Brücken zu bauen, wäre schön wird aber schwer.