„Den einen war ich zu links, den anderen zu rechts“

Die Offene Jugendarbeit Dornbirn ist untrennbar mit dem Namen Martin Hagen verbunden. Nun tritt er in die zwei Reihe.
Können Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag erinnern?
Martin Hagen: Allerdings. Am ersten Arbeitstag hat mich Bernhard Amann, bekannter Vorkämpfer für Jugendhäuser und Jugendkultur, angerufen. Ich kannte ihn damals kaum. Er hat mir gesagt, er werde mir eine Demonstration auf der Straße und vor den damaligen Räumlichkeiten organisieren, weil ich eine Drogendiskussion gemacht hätte, ohne die SPÖ-Jugend zu berücksichtigen. Ich hatte keine Ahnung, um was es geht.
Um was ging es?
Hagen: Der Vorgängerverein der Offenen Jugendarbeit Dornbirn, der Kaktus, war immer wieder in Konflikte verwickelt. Die hatten eine Drogendiskussion angeregt und damalige Nachwuchspolitiker und -politikerinnen für die Vorbereitung eingeladen. Letztlich war die SPÖ-Jugend nicht dabei. Dafür wurde ich verantwortlich gemacht. Ich wusste gar nicht, dass die Veranstaltung geplant war. Das war der erste Tag.
Und dann?
Hagen: Dann war die gesamte Einrichtung, Tonanlage und vieles mehr nicht mehr da. Dafür lagen etliche Matratzen im Jugendhaus rum. Die Vorgänger hatten sich damals auch schon mit Obdachlosigkeit usw. beschäftigt. Die Stadt hat in der Folge den Verein Offene Jugendarbeit Dornbirn gegründet und ihn ausgelagert. Weil ich diesen Verein übernommen und dem damaligen Bürgermeister Rudi Sohm versprochen habe, es ein Jahr lang zu machen, war ich ein bisschen auf der Abschussliste der Jugendinitiativen.
Warum?
Hagen: Weil ich mit dem Rudi Sohm geredet habe. Für mich war aber auch aufgrund von Studien klar, wenn ich keine Unterstützung vonseiten der Stadt, des Landes und später des Bundes bekomme, dann bleiben wir ein kleiner Armenhäusler-Verein mit ständigem Wechsel, weil die Arbeitsbedingungen nicht passen. Offene Jugendarbeit ist eine eigene Fachdisziplin, und das muss von Fachleuten gemacht werden, die auch bezahlt werden müssen.

Sie sind promovierter Psychologe. Wie sind Sie zur Jugendarbeit gekommen?
Hagen: Durch reinen Zufall bzw. ein Inserat, das meine Schwester gelesen hatte. Ich bin zuerst bei den Kinderfreunden gelandet und dann beim Jugendtreff Kaktus, weil wir Veranstaltungsräume brauchten. Da habe ich Potenziale gesehen, die brachlagen, die Möglichkeit, mit anderen eine professionelle offene Jugendarbeit aufzubauen, die es damals in der Form nicht gab. Mir war es immer wichtig, mit den kritischen Initiativen zusammenarbeiten, aber auch mit der ÖVP-dominierten Stadtregierung ein Einvernehmen zu haben. Mit dem Ergebnis, dass ich den einen zu links und den anderen zu rechts war.
Wie war die Situation für Jugendliche vor 30 Jahren?
Hagen: Im Prinzip bestimmten das Geburtshaus, die ökonomische Stellung und Bildungsschicht der Eltern den Werdegang. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Bedingungen, unter denen jemand aufwächst, sind nach wie vor entscheidend.

Was gab es in den drei Jahrzehnten für Veränderungen?
Hagen: In den 1980ern und frühen 1990ern waren Jugendzentren Orte des Widerstands bürgerlicher Jugendlicher gegen das verzopfte und in die Jahre gekommene Establishment. Diese kulturell und inhaltlich widerständigen Jugendlichen haben sich mit der Zeit immer weniger in den Jugendzentren eingefunden. Dafür kamen junge Menschen mit ganz wenigen ökonomischen Möglichkeiten, auch weil es hier keinen Konsumzwang gibt.
Auch vermehrt Jugendliche mit migrantischem Hintergrund?
Hagen: Genau. Man hat gemeint, dass die Zuwanderung ein Rotationsmodell ist, dass die Leute wieder heimfahren, neue kommen und dann wieder gehen. Das war ein schwerer Irrtum. Es sind dann auch Jugendliche in die Jugendzentren gekommen, die nicht Deutsch als Muttersprache hatten und die aber genauso richtig, wichtig, liebenswert und sozial waren wie die anderen. Die Jugend war früher nicht besser als heute, und jene mit Migrationshintergrund sind nicht gefährlicher als jene ohne. Es kommt vor allem darauf an, in welches Nest du fällst.
Zur Person
Martin Hagen
Geboren am 30. April 1959 in Lustenau, dort aufgewachsen. Matura am Gymnasium Bregenz, Studium der Psychologie und Pädagogik an der Universität Salzburg mit Promotion. Zweijährige Weltreise durch, unter anderem, Malaysia, Türkei, Indien und die Philippinen.
Ab 1. August 1992 Aufbau und Leitung des Vereins Offene Jugendarbeit Dornbirn.
Lebt in einer Partnerschaft in Lustenau. Hobbys: Amateurfunk, Segeln und Reisen.
Haben sich die Probleme der Jugendliche in den 30 Jahren verändert?
Hagen: Den größten Unterschied bilden sicher die sozialen Medien. Die sind einerseits ein Segen und andererseits ein Fluch. Der Segen besteht im leichten Zugang zu Informationen jeglicher Art. Aber es wird dadurch auch ein gewisser Druck erzeugt, gut auszusehen. Es ist quasi eine Betätigungswiese für Anerkennung, und sie erzeugen einen gewissen Normierungsstress. Damit sind wir in unserer Arbeit auch konfrontiert, wobei unser Ansatz ist, und daran glauben wir, dass jeder Jugendliche Talente hat.
Welche positiven und negativen Erlebnisse gab es in den vergangenen Jahrzehnten?
Hagen: Schwierig war es anfangs, die Jugendzentren zu einen. Es gibt in Vorarlberg über 40 aktive Jugendzentren. Die zu einer gemeinsamen Interessenvertretung zu bündeln, war nicht einfach, ist aber geglückt. Zudem wurde gemeinsam mit Bernhard Amann und vielen weiteren auch die bundesweite Vernetzung weiterentwickelt. Da habe ich mich sehr eingesetzt. Wir haben uns in der offenen Jugendarbeit eine Art Lobbyfunktion für Jugendliche erarbeitet und sind auch zu Expertinnen und Experten gerade für Jugendliche mit schwieriger Sozialisationsgeschichte geworden. Das belegen einige unserer Job- und Bildungsprojekte. Das sind die positiven Erlebnisse.

Haben Sie sich nie überlegt, einen anderen Job zu machen?
Hagen: Die Freude, mit jungen Leuten zu arbeiten, hat sich gehalten. Sie sind voller Esprit, voller Leben. Wenn man sie respektvoll behandelt, sind sie ein einziger Jungbrunnen.
Gibt es etwas, das Sie im Nachhinein anders machen würden?
Hagen: Ja, mehr Forderungen zu stellen. Verschiedene Personen aus Verwaltung und Politik haben mir bei ihrem Abgang immer wieder mal gesagt, ich habe nicht verstanden, warum ihr nicht frecher seid. Wir hatten viele Forderungen, haben die deponiert, und dann ging jahrelang gar nichts. Irgendwann ergeben sich die Dinge aber durch Veränderungen dann doch.
Bei der morgigen Jahreshauptversammlung erfolgt die Übergabe der Geschäftsführung an Ihren Nachfolger Stefan Rainer. Sie treten dann in die zweite Reihe. Mit welchem Gefühl?
Lackner: Da ist einerseits die kleine, noch kaum glaubwürdige Hoffnung, dass ich dann viel Freizeit habe, meinen Hobbys wie Reisen und Segeln verstärkt nachzugehen. Andererseits fürchte ich mich ein klein wenig vor den sinkenden und dann auslaufenden Möglichkeiten, gute Ideen zu entwickeln und diese umzusetzen. Das ist nämlich meins, das interessiert mich.

Was werden Sie nach der Übergabe noch tun?
Hagen: Ich werde noch in einem kleinen zusätzlichen Verein, der Unterstützungsleistungen bietet, tätig sein. Dort werde ich Innovationen, Fortschritt und Stabilisierung dieser Arbeit versuchen.
Aber Sie arbeiten noch weiter?
Hagen: Ja, ich bin jetzt 64, und wenn ich dann 65 bin – am 30. April 2024 –, ziehe ich mich zurück. Bis dahin werde ich meinen Nachfolger einarbeiten, verzichte aber wie mein Stellvertreter Kurt Nachbaur auf einiges an Lohn, damit wir die Ressourcen für den Nachfolger frei machen können. Jedes gute Privatunternehmen macht einen ordentlichen Übergangsprozess.
Wo sehen Sie jetzt nach über 30 Jahren noch die größten Baustellen in der Jugendarbeit?
Hagen: Es braucht dringend einen positiven Blick auf junge Zugewanderte und somit einen Ausbau der Integrationsmaßnahmen, es braucht dringend verbesserte Zugänge zu Bildung und zu Menschen aus anderen Kulturen. Wenn wir das nicht ausbauen, frage ich mich, wohin wir in einer aussterbenden Gesellschaft gehen. Und: Man muss unbedingt auf die jungen Leute hören, die sich politisch gegen den Klimawandel engagieren. Wer hier nicht sieht, dass wir in eine globale Katastrophe rasen, der braucht auch keine Sozialarbeit mehr, aber es gibt auch keine Wirtschaft auf einem verbrennenden Planeten.