„Eins und eins sind im Fußball nicht immer zwei“

Im Sport-Talk zieht Sportchef Mirco Papaleo eine erste Bilanz über die Kaderplanungen, erklärt die Dynamiken bei Transfers und offenbart, was ihn an Lustenau überrascht.
Zu Beginn kann es nur eine Frage geben: Wie hat Ihnen die EM gefallen?
Mirco Papaleo: Das geht ja gleich gut los (lacht). Ich habe offen gestanden die Europameisterschaft zu wenig aktiv verfolgt, um mir ein Urteil erlauben zu können. Ich war fast durchgängig mit der Kaderplanung beschäftigt.
Ihr Einsatz hat sich gelohnt, der Austria-Kader ist fast fertig. Sie haben bestimmt davon gehört, wie spät Austria Lustenaus Kaderplanungen im Vorjahr abgeschlossenen waren. War es Ihnen auch deshalb wichtig, dass der Kader deutlich vor Meisterschaftsstart mehr oder minder steht?
Papaleo: Selbstverständlich habe ich oft davon gehört, dass vor einem Jahr die Planungen lange gedauert haben. Aber diesen Vergleich habe ich nicht als Antrieb gebraucht. Ich wollte auch so schnellstmöglich einen Stammkader beisammen haben. Wobei ich schon dazu sagen muss, dass bei der Kaderplanung nicht nur das Tempo entscheidend ist, sondern viel mehr noch, dass man die richtigen Spieler holt. Ich bin mir relativ sicher, dass das auch ein Grund für die Verzögerungen im Vorjahr war: Auch da hat man sicher auf die richtigen Spieler gewartet und ist dann bei der ein oder anderen Verpflichtung ins Risiko gegangen, weil für Austria-Verhältnisse relativ große Namen zu haben waren. Diese Spieler haben aber letztendlich leider nicht das gebracht, was man sich erhofft hat.
War auch das Mannschaftsfoto aus dem Vorjahr mit fast mehr Betreuern als Spielern kein Antrieb?
Papaleo: Doch, so ein Foto wollte ich unbedingt vermeiden.
Die Austria-Bosse haben Ihnen bei den Bewerbungsgesprächen im Frühjahr sicher gesagt, dass es schwierig ist, potenzielle Leistungsträger nach Lustenau zu holen. Nachdem Sie nun Ihre ersten Erfahrungen gemacht haben: Wie schwierig ist es aus Ihrer Sicht wirklich, potenzielle Unterschiedsspieler nach Lustenau zu holen?
Papaleo: Nach einem Abstieg ist es wahrscheinlich für die allermeisten Klubs schwierig, die Leistungsträger zu halten und neue Unterschiedsspieler zu verpflichten. Aber ich glaube, es ist uns gelungen, spannende Spieler mit Potenzial nach Lustenau zu lotsen. Sacha Delaye bringt 23 Einsätze in der französischen Ligue 1 mit, auf die Zahl kommst du ohne ein besonderes Talent nicht. Platt gesagt sind wir aber schon eher am Ende in der Nahrungskette in Österreich, weil auch in der 2. Liga mehrere Vereine ein deutlich höheres Budget haben als wir, die Erstligisten sowie. Man muss bei den Gesprächen mehrgleisig fahren, man muss Geduld haben, ehrlich zu sich selbst und den Spielern sein und ihnen aufzeigen, was Austria Lustenau zu bieten hat. Und das ist schon eine Menge, so selbstbewusst dürfen wir trotz des Abstiegs schon sein.
Sie haben den Transfer schon angesprochen: War die Verpflichtung von Sacha Delaye die bisherige Kirsche auf der Torte?
Papaleo: Er ist sicherlich einer der Spieler, die in der Offensive den Unterschied ausmachen können. Aber als Kirsche auf der Torte würde ich ihn nicht bezeichnen, weil wir auch andere Spieler dazu geholt haben, die den Unterschied ausmachen können – wie zum Beispiel Kooperationsspieler Abdellah Baallal. Wobei es der falsche Zugang ist, nach einem Abstieg nur von den Neuverpflichtungen zu sprechen. Wir konnten mit Leo Mikic und Namory Cisse auch zwei Spieler halten, die sehr wichtig für uns werden können, das ist nicht selbstverständlich, dass wir diese Spieler von unserem Weg überzeugen konnten. Natürlich, Sacha Delaye sticht aufgrund seiner Vita etwas heraus, weil wir natürlich darauf hoffen, von seinen Erfahrungen zu profitieren.
Er stand in der Ligue 1 gegen PSG gegen Lionel Messi, Kylian Mbappé und Segio Ramos auf dem Platz.
Papaleo: Diese Partie ist es gar nicht, die uns weiterbringt. Es sind seine Erfahrungen im Allgemeinen, die er auf höchstem Niveau gemacht hat. Es ist schon noch mal was ganz anderes, ob man in Frankreich in der vierthöchsten Liga in einer zweiten Mannschaft spielt oder in der ersten Liga in vollen Stadien und bei großem Druck. Diese Erstliga-Erfahrungen hat aber nicht nur Delaye gemacht, sondern auch Spieler wie Domenik Schierl, Matthias Maak oder Pius Grabher, deren Vertragsverlängerungen ein wichtiges Zeichen für die Mannschaft und die Fans waren. Das wirklich Schwierige ist, dass im Fußball nicht immer eins plus eins zwei ist. Nicht die elf besten Individualspieler ergeben die beste Mannschaft, sondern die elf plus mindestens sieben Spieler, die als Mannschaft am besten miteinander harmonieren. Wenn es immer nur über individuelle Qualität ginge, wäre Fußball ja ganz einfach: Dann gäbe es so gut wie keine Überraschungen. Aber so funktioniert Fußball nicht.
Viele Fußballfans spielen als Fußballmanager am Computer und richten dementsprechende Spielervorschläge an ihre Vereine. Wie unterscheidet sich die Wirklichkeit von der Simulation am PC?
Papaleo: Ich war als Fan auch so. Man nennt Namen von Spielern, die der Lieblingsverein verpflichten soll, und versteht die Welt nicht mehr, wenn der Spieler kein Thema ist. Aber die Wahrheit ist: Kein Verein der Welt kann 25 Stammspieler holen, es kommt wie gesagt auf das Gesamtkonstrukt an. Bei der Simulation am PC sind die Finanzen zwar auch ein Faktor, aber nicht so stark wie in der Realität. Beim Managerspiel kann man einen Spieler und den abgebenden Verein mit Geld zuschütten, und dann klappt der Transfer. In Wirklichkeit prallen bei einem Transfer so viele Interessen aufeinander: Der Berater tendiert mitunter zu einem anderen Verein als der Spieler selbst, die Frau des Spielers will oft gar nicht umziehen oder hat, zum Beispiel wegen der Kinder, gewisse Ansprüche an den neuen Wohnort, hat der Spieler noch Vertrag, muss man sich mit dem abgebenden Verein einigen. Bei Transfergesprächen entwickeln sich so viele Dynamiken, du musst als Verein ja auch eine mittelfristige Planung machen. Das ist uns übrigens gelungen, außer den Leihgaben von Clermont haben alle Neuzugänge einen Vertrag über den nächsten Sommer hinaus.

Es heißt oft, dass man im Fußball-Geschäft bei Vertragsgesprächen ein Pokerface braucht. Klischee oder Realität?
Papaleo: Prinzipiell geht es bei Vertragsgesprächen auch darum, den Spieler kennenzulernen, darum führe ich, Berater hin oder her, immer auch ein persönliches Gespräch mit dem Spieler, um ein Gefühl dafür zu bekommen, mit was für einem Menschen ich es da zu tun habe. Anders als bei der Simulation am Computer sind nämlich nicht nur die technischen und taktischen Fähigkeiten des Spielers entscheidend, sondern auch der Charakter. Es ist wirklich komplex. Natürlich ist man bei Gesprächen mit Spielern und Beratern auch ein Verkäufer, aber man darf nichts versprechen, das man nicht halten kann. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches ist man offen gestanden manchmal überhaupt nicht transparent, man bekommt oft nur das zu hören, was man hören soll und was gut klingt. Als Verein gilt es, authentisch zu sein: Man darf Spieler nicht zu lange warten lassen, man muss fair agieren und ehrlich sein. Pokern gehört dazu, aber nicht zum Preis der Transparenz.
Noch so ein Klischee: Es heißt oft, dass ein Stadionneubau ein Trumpf bei Verhandlungen ist. Stimmt das – oder interessiert ein Stadionneubau letztendlich kaum einen Spieler?
Papaleo: Das hilft, weil ein Stadionneu symbolisch dafür steht, dass bei einem Verein etwas in Bewegung ist, ein Stadionneubau steht für Aufbruch, für Dynamik. Und das ist vor allem für die Spieler wichtig, die länger bei einem Verein bleiben wollen.
Ein Kooperationsplatz ist noch offen, und es ist zu hören, dass dieser Platz – im Gegensatz zur Vorsaison – auch besetzt werden soll?
Papaleo: Da hören Sie richtig. Wir sind bereits bei der formalen Abwicklung der Leihe, wenn alles gut geht, werden wir den Spieler nächste Woche präsentieren. Ich kann schon verraten, dass es sich dabei um einen Offensivspieler handeln wird.
Wird es darüber hinaus noch weitere Transfers geben?
Papaleo: Ja, wir wollen noch zwei Spieler holen. Es sollen noch ein Mittelstürmer kommen und ein Verteidiger. Auch da werden wir schon nächste Woche in die Detailverhandlungen gehen, aber auch das ist ein Unterschied zum Computerspiel: Manchmal ändern sich Meinungen, bevor der Vertrag nicht unterschrieben ist, kann man sich nie sicher sein, dass ein Transfer klappt.
Was hat Sie an Lustenau am meisten überrascht?
Papaleo: Dass hier der Fußball so gelebt wird. Das ist in der DACH-Region selten und kennt man so eigentlich eher nur aus südlicheren Ländern. Das Fußballspiel wird hier zum Treffpunkt, das habe ich zum Beispiel bei den Public Viewings der EM-Spiele mitbekommen. Mir gefällt die Leidenschaft der Lustenauer für den Fußball, die Austria ist mehr als nur ein Verein, sie ist ein Stück Lustenauer Identität, das habe ich sofort gespürt.
Wie wichtig ist es eigentlich, die Vergangenheit, die Historie eines Klubs zu kennen, um die Zukunft des Vereins prägen zu können?
Papaleo: Das ist schon sehr wichtig. Man darf sich nicht in Details verlieren oder etwas abergläubische Vergleiche anstellen, im Sinne von: Wenn wir dies und jenes so machen wie vor der Aufstiegssaison, dann klappt es wieder mit dem Aufstieg. Solche Vergleiche sind Quatsch, die bringen gar nichts. Aber man muss die Kultur und die Identität eines Klubs kennenlernen, um zu verstehen, was den Verein ausmacht und den Verein geprägt hat. Damit, und das ist der springende Punkt, man als Neuankömmling dem Verein keine neue Identität überstülpen will, die überhaupt nicht zur Tradition passt.
Absteiger ragen für gewöhnlich ein, zwei Jahre aus der tieferen Liga heraus und werden, wie ich es nenne, dann von der Liga verschluckt. Soll heißen: Der Verein ist dann nicht mehr der Bundesliga-Absteiger, sondern einfach ein gewöhnlicher Zweitligist. Wie wichtig ist es deshalb für die Austria in der anstehenden Saison, perspektivisch wieder den Anspruch zu stellen, dass man zurück in die Bundesliga will?
Papaleo: Es ist wichtig, dass die Fans in der kommenden Saison sehen, dass in Lustenau etwas heranwächst. Unser Ziel ist natürlich, eine möglichst gute Rolle zu spielen, dafür braucht es einen Trainer, der die Ambitionen hat, ein Spiel zu gewinnen – anstatt es nur nicht verlieren zu wollen. Wichtig ist aber auch, dass die Fans nach Negativerlebnissen nicht alles infrage stellen. Es wäre zu einfach zu sagen, dass ein Mittelfeldplatz schlecht ist, es kommt darauf an, ob eine Entwicklung spürbar ist. Mittelfristig wollen wir uns in der Bundesliga etablieren, aber auf diesem Weg müssen wir einen Schritt nach dem anderen machen.
Was versprechen Sie sich von Martin Brenner als Trainer?
Papaleo: Bei der Trainerentscheidung geht es auch sehr stark darum, dass der Trainer als Typ zum Verein passt, zum Beispiel in unserem Fall, dass er bodenständig ist. Gleichzeitig war uns wichtig, dass er modernen Fußball spielen lässt. Ich habe wie gesagt nicht so verrückt viel von der EM mitbekommen, aber eine Aussage ist bei mir hängengeblieben: Der türkische Nationaltrainer sagte vor dem Achtelfinalspiel gegen Österreich, dass Österreich so eingespielt auftritt wie eine Klubmannschaft. Das ÖFB-Team spielt einen dynamischen, mutigen, attraktiven Fußball. Einen solchen mutigen Fußball wollen auch wir spielen, dafür steht Martin Brenner auch. Mir und uns war auch wichtig, dass der Trainer die Spieler weiterentwickeln kann, damit meine ich nicht nur die jungen Spieler, sondern, dass der Trainer selbst arrivierte Profis noch auf ein neues Niveau heben kann. Martin Brenner ist ein Trainer, der sowohl beim Spiel als auch beim Training auf Details achtet, auch das hat uns dazu bewogen, dass wir uns für ihn entschieden haben.
Gareth Southgate stand bei England in der Kritik, weil der Zweck bei ihm die Mittel heiligte, er mit unattraktivem Fußball Runde für Runde meisterte. Steht in der kommenden Saison bei der Austria vielleicht sogar über dem Resultat, dass man die Fans mitnimmt?
Papaleo: Nein, Fußball ist ein Ergebnissport, und das Resultat ist weiterhin wichtig. Aber klar ist: Je mehr Chancen du kreierst, desto größer ist für gewöhnlich die Wahrscheinlichkeit, dass du Tore erzielst. Ob du für einen Abschluss im Strafraum 3 oder 20 Pässe brauchst, hängt von vielen Umständen ab. Dem Gegner, dem Spielstand und natürlich der Qualität der eigenen Mannschaft. Ich habe die Kritik an Southgate mitbekommen, und auch, wenn eine EM durch die Turnierform nicht mit einer Meisterschaftssaison vergleichbar ist: Ein Sieg ist ein Sieg. Das heißt nicht, dass bei einem Sieg alles gut war, und das heißt auch nicht, dass bei einer Niederlage alles schlecht war. Aber als Verantwortlicher beschäftige ich mich lieber damit, was man nach einem Sieg noch besser machen kann, als was bei einer Niederlage eh ganz okay war. Wenn die Engländer Europameister geworden wären, hätten sie Southgate ein Denkmal gebaut.

Papaleo im Wordrap
Der Straßenverkehr in Lustenau ist …?
… nicht so schlimm wie in Zürich.
Wissen Sie, wer Marc Girardelli ist?
Der Name sagt mir gar nichts.
Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten, welches Ereignis würden Sie gerne miterleben?
Den letzten Champions-League-Sieg meines Lieblingsklubs Juventus Turin im Jahr 1996, aber wenn schon, denn schon: im Stadion.
Dass es in der 2. Liga keinen VAR gibt, ist ein Vor- oder Nachteil?
Ein Vorteil, aber wer weiß, wie ich das in einem Jahr sehe.