Allgemein

„Die Menschen fallen durch das Raster“

15.09.2024 • 14:00 Uhr
Interview Bettina Todorovic LONG COVID-Patientin
Die NEUE sprach mit Betroffenen wie Bettina Todorovic aus Hard. Stiplovsek

Als Sachverständiger und Experte für ME/CFS und Long Covid erklärt Markus Gole im Gespräch die schwierige Diagnostik und wieso der Ruf nach Kompetenzzentren im ganzen Land immer lauter wird.

Mit welchen Problemstellungen werden Sie in Ihrer Praxis konfrontiert?
Markus Gole: Also, ich bin jetzt schon seit längerer Zeit in meiner Praxis als Psychologe, Philosoph und Sachverständiger für Berufskunde tätig. Bei ME/CFS, Post-Covid-Syndrom oder Long Covid klagen meine Patienten und Patientinnen über massive Erschöpfung, über Zustandsverschlechterungen nach Anstrengungen oder über kognitive beziehungsweise Schlafprobleme. Da gilt es, genau von psychologischer Seite hinzuschauen und herauszufinden, welche Erkrankung, welche Diagnose diese Symptomlast am besten erklärt. Wird es durch Depression am besten erklärt, durch Somatisierungsstörungen oder bleibt trotzdem etwas übrig, nämlich etwas, das für Post-Covid-Syndrom oder ME/CFS spricht? Sowohl was psychologische Begutachtung als auch Behandlung. Ebenso die Begutachtung aus dem berufskundlichen Bereich zählt zu meinen Tätigkeiten: Arbeitseinsetzbarkeit oder die Arbeitsfähigkeit – welche Berufe sind noch möglich?

Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Youtube angezeigt.

Was macht eine Diagnose von ME/CFS so schwierig?
Gole: Das ist genau diese spannende Gretchenfrage. Also, wenn Zuweisungen zu einer Praxis ärztlicherseits passieren, lautet die Frage oftmals: Liegt eine Depression vor oder spricht es für ME/CFS? Man kann in Sprachjargon sagen, Depression oder Differenzialdiagnose ME/CFS. Eigentlich kann man diese Erkrankungen gut voneinander unterscheiden. Beide, sei es im psychischen oder körperlichen Bereich, haben immer wieder ganz klare Kardinalsymptome, Symptome, die notwendigerweise vorhanden sein müssen und nur spezifisch für ein Krankheitsbild gelten, aber nicht für ein anderes. Hier bleibt man am spezifischen Symptom der Erschöpfung. Wenn ein Patient über Erschöpfung klagt, dann kann das fast alles sein – das ist ungefähr so, wie in der Hausarztpraxis, wenn jemand über Bauchschmerzen klagt. Wenn man genau unterscheiden will, braucht man Differenzierungsmerkmale. Und das ist bei ME/CFS das Phänomen der Post-Exertional Malaise (PEM) – also die Zustandsverschlechterung nach Anstrengung. Anstrengungen, die zuvor banal waren, lösen plötzlich eine massive Erschöpfung aus und verschlimmern die bestehende Symptomlage. Das ist das differenzialdiagnostische Merkmal, das nur bei ME/CFS gegeben ist, aber nicht bei psychischen Erkrankungen. Bei Depressionen stehen affektive Beteiligungen und depressive Verstimmungen im Vordergrund. Und das erklärt hinreichend die gesamte Symptomlast. Bei depressiven Erkrankungen ist Aktivierung das Mittel der Wahl, denn Bewegung führt zu Besserung. 20 bis 30-minütige Spaziergänge zum Beispiel – aber das trifft nicht auf die ME/CFS-Gruppe zu. Daher ändert sich auch die Behandlung basierend auf der Diagnostik. Es geht nicht darum, wer recht hat und wer nicht, sondern was die bestmögliche Behandlung für die Betroffenen ist.

Da klingt dann ja auch quasi die Forderung nach einem verstärkten Ausbau von Long-Covid-Kompetenzzentren an, die auch interdisziplinär agieren. Die Forderung ist ja auch bei vielen Betroffenen omnipräsent, weil sie oft das Gefühl haben, vom System zurückgelassen zu werden oder nicht in den Anspruch von Sozialleistungen zu kommen. Wieso fällt es so schwer, diesen Menschen auch von Seiten des Staates und des Gesundheitssystems entgegenzukommen?
Gole: Ja, das sehe ich auch in meiner Praxis immer wieder. Leider gibt es keine einfache Antwort darauf. Das Einrichten von Kompetenzzentren ist eine politische Angelegenheit. Es müssen Mittel geschaffen werden, Posten müssen geschaffen werden – und das alles ist politischer Wille. Sozialleistungen sind ebenfalls stark gesetzlich geregelt. Wir haben in Österreich ein „Fleckerlteppich“-System: Jede Sozialleistung basiert auf anderen gesetzlichen Regelungen, die teilweise von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind. Sozialhilfe ist Ländersache, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe unterliegen dem Arbeitslosenversicherungsgesetz, die Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspension fallen unter das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz. Diese Systeme greifen nicht ineinander. Deshalb kommt es immer wieder zu absurden Situationen: Betroffene werden von der Pensionsversicherung als arbeitsfähig eingestuft und landen beim AMS, wo sie als nicht vermittelbar gelten. Gleichzeitig können sie sich bei der Krankenkasse nicht mehr krankmelden, weil die Bezugsdauer für das Krankengeld bereits vorbei ist. Die Menschen fallen durch alle Raster.

Markus Gole
Markus Gole. Gole (2)

Zur Person

MMag. DDr. Markus Gole ist Klinischer Psychologe, Philosoph und Sachverständiger für Berufskunde in eigener Praxis in Linz. Er ist Dozent für Biologische Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Autor mehrerer wissenschaftlicher Aufsätze und eines Buches. In seiner klinischen Arbeit ist er auf die (neuro-)psychologische Beurteilung und Behandlung des Post-Covid-Syndroms und ME/CFS spezialisiert.

In Ihrer Praxis sehen Sie sicherlich oft, dass es am Wissen über ME/CFS fehlt. Warum gibt es so wenig Verständnis für diese Erkrankungen?
Gohle: Das liegt daran, dass dieses Wissen in der Ausbildung fehlt – sowohl in der medizinischen als auch in der psychologischen. Es gibt einfach keine breite Wissensbasis. Zudem ist die Forschung zu ME/CFS jung. Long Covid gibt es erst, seit es Corona gibt. ME/CFS ist zwar seit den 60er-Jahren bekannt und kodierbar, aber es wurde kaum öffentliches Interesse gezeigt, es zu erforschen. Ich denke, das liegt daran, dass es schwer zu diagnostizieren ist und die Symptomlage unspezifisch bleibt.

Glauben Sie, das Thema Corona – auch abseits von Long Covid – hat die Gesellschaft gespalten? Und wurde die Pandemie von politischer Seite als „heiße Kartoffel“ behandelt? Könnte es sein, dass die Politik nun zögert, sich wieder intensiv mit diesen Themen zu befassen, wie etwa der Schaffung von Kompetenzzentren?
Gole: Ja, es wirkt so, als wäre das Thema aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn die Öffentlichkeit sagt, die Pandemie ist vorbei, wird das Thema Corona nicht mehr wahrgenommen, obwohl es noch da ist. Long Covid und ME/CFS sind keine Massenphänomene, was ihre Behandlung schwieriger macht. Trotzdem ist es bemerkenswert, dass es für Multiple Sklerose überall Versorgungszentren gibt, obwohl die Prävalenz ähnlich hoch ist. Der große Unterschied liegt darin, dass es für ME/CFS noch keinen klaren Biomarker gibt. Das macht es schwieriger, die Krankheit zu diagnostizieren und Maßnahmen umzusetzen.

Markus Gole
Online auf VOL.AT findet man das gesamte Gespräch mit Markus Gole als Video.

Steht die Politik vermehrt unter Zugzwang, jetzt vor den Wahlen? Oder ist es realistisch, dass der Hilferuf von den Betroffenen und Selbsthilfegruppen Gehör findet?
Gole: Natürlich wählt man seine Politiker, aber ich bin realistisch. Nach der Wahl wird nicht in jeder Stadt plötzlich ein Kompetenzzentrum entstehen. Doch ich bin optimistisch, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit erhält. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Politik sensibilisiert wurde. Der Aktionsplan und die Ausschreibungen für Kompetenzzentren sind im Rennen. Auch der jetzige Gesundheitsminister hat das Thema nicht ignoriert, und es ist mehr passiert als in der Vergangenheit. Es sieht gut aus, aber wir haben keine Kristallkugel. Hoffen wir das Beste.