Dominic Thiem: Der Unvollendete ist mit sich im Reinen
Dominic Thiem feiert heute in der Wiener Stadthalle den ersten von zwei Abschieden. Ein Rückblick auf eine herausragende Karriere.
Für Dominic Thiem schließt sich dieser Tage ein Kreis. In der Wiener Stadthalle, wo die Karriere des Österreichers 2013 trotz der hauchdünnen Viertelfinal-Niederlage gegen Topmann Jo-Wilfried Tsonga ihre ultimative Initialzündung erfuhr („Da wurde mir bewusst, dass ich auch gegen die ganz Großen bestehen kann“); feiert der Lichtenwörther einen doppelten Abschied. Heute (18.50 Uhr, ORF 1 live) kommt es mit Alexander Zverev auf dem Center Court zu einer Neuauflage des US-Open-Finales 2020, anschließend folgt die offizielle Verabschiedung des 17-fachen Turniersiegers in die Tennis-Pension. Am Dienstag steigt der 31-Jährige dann in die Erste Bank Open ein und wird gegen den Italiener Luciano Darderi wohl sein letztes Match auf der ATP-Tour bestreiten. Zweiter ÖTV-Protagonist im Hauptfeld ist Joel Schwärzler. Der 18-jährige Vorarlberger wird gegen den topgesetzten Zverev vorrangig Erfahrungen sammeln.
Thiem zählte auch erst 18 Lenze, als er 2011 ebenfalls in Wien der heimischen und internationalen Tennisfamilie vorstellig wurde. Mit einem 6:2, 6:3-Erfolg schickte er den zu diesem Zeitpunkt bereits 44-jährigen Thomas Muster in die endgültige Pension. Präsentierte sich der Bub aus Niederösterreich damals noch schüchtern und wortkarg, hatte er mit Coach und Manager Günter Bresnik sowie Fitnesstrainer Sepp Resnik zwei echte Plaudertaschen zur Seite.
Während Bresnik nicht müde wurde zu betonen, dass der Bursche mit der knallharten einhändigen Rückhand einmal ein ganz Großer werden würde, erzählte Resnik von den schweißtreibenden Kondi-Einheiten – Baumstämme einen Hang hochschleppen inklusive. Dazu noch die Tatsache, dass Thiems Großmutter ihre Wohnung veräußern musste, um die Karriere des Enkerls mitfinanzieren zu können – Geschichten, wie sie nur der Sport schreibt.
Bresniks Prophezeiung erfüllte sich spätestens 2015, als sein Schützling in Nizza den ersten Turniersieg feiern konnte. Dann ging es Schlag auf Schlag, es folgten mehrere Titel sowie die Pariser Endspiele 2018 und 2019. Allerdings war Bresnik 2019 nicht mehr mit von der Partie, Thiem hatte zwei Monate zuvor die Trennung bekannt gegeben („Ich musste mich emanzipieren“) und statt seines „Ziehvaters“ seinen bisherigen Touring-Coach Nicolas Massu sowie Wien-Turnierdirektor Herwig Straka als neuen Manager an Bord geholt. Rückblickend allerdings ein Schritt, der für manche das Ende von Thiems Erfolgsgeschichte einläutete.
Doch zuerst ging der Höhenflug unvermindert weiter: Einziger Masters-Titel in Indian Wells, die Heimsiege in Kitzbühel und Wien sowie 2020 das Endspiel in Melbourne (inklusive des gescheiterten Projekts mit Muster als Super-Coach), Platz drei in der Weltrangliste und schlussendlich der Grand-Slam-Triumph in New York. Niemand hätte damals geglaubt, dass der 17. zugleich sein letzter Turniersieg sein sollte. Doch es folgten Motivationsprobleme („Das Feuer war erloschen“) und am 22. Juni 2021 die folgenschwere Handgelenkverletzung, von der sich Thiem nie wieder vollständig erholte.
Ein früher Abschied
Unzählige Arztbesuche und mehrere Trainer- und Managerwechsel halfen nichts – Österreichs Tennisheld, der neben Andy Murray als einziger Spieler die großen drei Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer jeweils zumindest fünfmal bezwingen konnte, fand nicht mehr in die Erfolgsspur zurück und verkündete im heurigen Frühjahr seinen Rücktritt mit Saisonende. Ein Abschied, der für viele heimische Tennisfans mit nur 31 Jahren zu früh kommt. Aber: „Ich bin eh noch jung, doch mein Handgelenk fühlt sich an, als wäre es 70“, sagte Thiem erst kürzlich bei Österreichs Sportgala in der Wiener Stadthalle, als ihm der „Special Award“ überreicht wurde.
Während der Tennisstar vor allem in den vergangenen zwei Jahren mit einer sportlichen Achterbahnfahrt seine Anhängerschaft spaltete, ist er mit sich selbst „absolut im Reinen“. Er habe mit dem Kapitel abgeschlossen und konzentriere sich nun auf andere Projekte. Dazu zählen seine Brillenmarke „ThiemView“ und vor allem „ThiemEnergy“, wo der umweltbewusste Österreicher auf erneuerbare Energie setzt.
Muster nicht verdrängt
In die Sport-Annalen geht Thiem als Österreichs zweiterfolgreichster Tennisspieler hinter Muster ein. Vom Thron konnte er die steirische Legende wider Erwarten nicht stoßen. Weil ihm im viel zu frühen Herbst seiner Karriere möglicherweise der allerletzte Biss gefehlt hat. Und weil er sich in den vergangenen Jahren möglicherweise zu oft fehlleiten ließ.
Aber wie auch immer – Dominic Thiem war mit seiner erfolgreichen Laufbahn nicht nur für das heimische Tennis, sondern für den gesamten rot-weiß-roten Sport ein Volltreffer mit großer Nachhaltigkeit. Ein Idol, das mit seiner Vorbildwirkung vielleicht österreichische Stars von morgen eine Geschichte schreiben lässt, wie es nur der Sport kann.