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Schon schön, auf den zweiten Blick

04.11.2024 • 12:27 Uhr
Neue Kopfkino Salmhofer Kolumne
Sonntags-Tagebuch von Heidi Salmhofer. NEUE

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.

Es gibt Dinge, Menschen, Kunstwerke und vieles andere, das erkennen wir ad hoc als schön an. Kein weiterer Blick notwendig – ein Sonnenuntergang ist selbstredend wunderschön, George Clooney unbestreitbar ein schöner Mensch, Michelangelos Skulpturen ein Schaffen purer Schönheit. Aber dann gibt es auch Momente im Leben, die sich erst auf den zweiten Blick als prachtvoll entpuppen, wenn wir sie überhaupt als solche erkennen.

Neulich saß ich zum Beispiel auf einem kalten Balkon und starrte in die neblige Nacht hinaus. Meine Finger froren, die Luft war feucht-grimmig, und mein Gedanke war wenig poetisch: „Brr, da geh ich wieder rein, heute ist’s grauslich!“ Doch dann streifte mein Blick die Silhouette eines Hauses. Der Nebel umhüllte es geheimnisvoll, während ein gelber Lichtstrahl aus einem Fenster wie ein mutiger Held die Dunkelheit durchbrach. Aus dem nasskalten Novemberwetter wurde ein Gemälde. Ich blieb tatsächlich noch länger am Balkon stehen, staunend (oder vielleicht eher vor Kälte erstarrt, so genau weiß ich das nicht mehr). Auf einmal war da eine Stille und Sanftmut in der Szenerie, die mir im ersten Moment verborgen geblieben war. Halt einfach schön.

Mit Menschen gibt es ähnliche Phänomene. Wir alle haben gewisse Vorstellungen von einem körperlich optimal konstruierten Menschen – das dürfen wir uns getrost eingestehen. Natürlich haben wir da Vorlieben, und seien wir ehrlich: Ein symmetrisches Gesicht und ein sportlicher Körper wecken unsere Aufmerksamkeit. Aber genau dieser Fokus auf „Ideal­bilder“ verstellt uns leicht den Blick auf die viel subtilere Schönheit, die im „Unscheinbaren“ liegt. Außerdem, wenn man sich verknallt, wird der Mensch des Begehrens sowieso zur allerschönsten und perfektesten Schöpfung der Welt. Wie bei meinem Auto (ich weiß, der Vergleich ist jetzt etwas brutal, aber nichtsdestotrotz stimmig). Es ist kein offensichtlich hübsches Teil, da gibt es bei weitem bessere Fahrgestelle auf dem Markt, aber: Es ist genau auf meiner Wellenlänge. Ich muss keine 220 Studenkilometer auf der Autobahn fahren können, dafür habe ich extra viel Platz für Kids, Kegel sowie Requisiten und – tatarataaaa – es hat eine Anhängerkupplung. Das ist extrem sexy!

Was ich mit dieser holprigen Vergleicherei sagen will: Stehen bleiben und verweilen, oder zuhören, oder seinen eigenen Bedürfnissen vertrauen, bringt oft mehr Schönheit zutage, als der erste flüchtige Blick uns offenbart … und George Clooney ist auf den zweiten Blick gar nicht mehr sooo schön, übrigens.

Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalis­tin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.