Ein Hirn, (fast) wie ein Nudelsieb

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.
A Hirn wia a Nudlsieb”, hat meine Oma manchmal über sich selbst – oder mich – gemeckert. Über mich, wenn ich vergessen hatte, mein Frühstücksgeschirr vom Tisch zu räumen und gleich hinaus in den Garten gesprungen bin, um Jagd auf Fantasiedrachen zu machen. Über sich selbst, wenn sie nicht mehr wusste, wo sie ihre Brille abgelegt hatte. Wegen kleiner Momentaufnahmen ging sie davon aus, dass unser Hirn prinzipiell nicht besonders gut in der Lage war, Gedanken festzuhalten. Stattdessen würden diese ungehindert in den Abfluss des Vergessens versinken. Vermutlich hatte meine Omi recht, was das Nudelsieb anbelangt, aber sicher nicht, was die Konsistenz unserer Merkfähigkeit ausmacht. Ich habe nach jahrelanger Selbstdiagnose festgestellt, dass das Erinnerungsvermögen eher einem Sammelsurium an verschiedensten Nudelformen und -größen entspricht. Es gibt winzige Haarnudeln, die ihren Weg durch die kleinen Löcher finden, und dann gibt es die großen Fettuccine, die ewig im Sieb hängen bleiben. Meine Oma konnte zum Beispiel noch mit 84 Jahren Schillers „Glocke“ auswendig. Gelernt hat sie den poetischen Kalauer in der Volksschule. Mit neun Jahren. Bei mir hingegen sind Namen diese winzigen, feinen Suppennudeln, die durchschlüpfen, durchs Siebhirn. Dafür kann ich meine Matrikelnummer von der Uni noch immer auswendig, obwohl ich sie Jahrzehnte nicht mehr benutzt habe. Ich weiß, kein Vergleich zu Omas Schiller-Glocke. Festgemauert im Gedächtnis, steht der Vers aus Text gebrannt. Hätte man ihr erwidern können, wenn einem der eigene Kopf diesen poetisch schlagfertigen Gedanken erlaubt hätte. (Zusätzlich zu meinem schlechten Namensgedächtnis mangelt es mir auch an passender Reaktionsgeschwindigkeit. Bei dieser meine ich tatsächlich, dass sie pures Wasser ist, abfließt in irgendwelche hintersten Winkel meiner Gehirnwege, um sich dann in der Nacht als große Pfütze bemerkbar zu machen. Im glatten Wasser spiegelt sich gehässig der Satz: „Das hättest du sagen können!“) Ich frage mich schon, wie mein Hirn und vor allem, wieso es seine Gedächtnisteigwaren formt, seine Reaktionsflüssigkeiten bearbeitet und das Hausverstandsmus mischt. Warum es mir nicht erlaubt, dass ich mir die Telefonnummer meiner Kids auswendig merke, ich aber weiterhin Passagen aus „Dirty Dancing“ zitieren kann, als ob ich selbst mit Patrick Swayze im Filmstudio das Tanzbein geschwungen hätte. Ich werde es wohl nie erfahren. Deshalb mache ich jetzt Thunfisch-Spaghetti und trällere vor mich hin: „Baby, oh my Baby… you’re the one!“
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.