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“Kodex”-Sanktionen: Menschenrechts-Bedenken des Kanzleramts bleiben ungehört

03.07.2025 • 14:30 Uhr
"Kodex"-Sanktionen: Menschenrechts-Bedenken des Kanzleramts bleiben ungehört
Landtagssitzung am 3. Juni 2025. Hartinger

Die geplanten Kürzungen für Asylwerbende, die den Vorarlberger Kodex verweigern, könnten laut Bundeskanzleramt gegen Menschenrechte verstoßen. Landesregierung ließ Stellungnahme in Gesetzesvorschlag unberücksichtigt.

In Vorarlberg ist der sogenannte „Kodex“ für Asylwerber seit Juni 2024 in Anwendung. Das Dokument, das allen neu ankommenden Asylwerbern vorgelegt wird, enthält eine Selbstverpflichtung zur Teilnahme an Deutschkursen, Wertevermittlung sowie gemeinnützigen Tätigkeiten. Mit ihrer Unterschrift erklären sie ihre Bereitschaft, sich aktiv zu integrieren. Diese Erklärung war bisher freiwillig und blieb ohne unmittelbare Folgen bei Ablehnung. Mit einer Gesetzesänderung schafft die Landesregierung nun die Möglichkeit, auf eine Verweigerung zu reagieren – unter anderem durch finanzielle Leistungskürzungen.

Die dafür notwendige Änderung des Sozialleistungsgesetzes steht auf der heutigen Tagesordnung der Landtagssitzung und dürfte nach der ersten Lesung an den zuständigen Ausschuss verwiesen werden.

Welche konkreten Personengruppen betroffen sind, wie Mahnungen ablaufen und innerhalb welcher Fristen reagiert werden muss, legt das Gesetz nicht im Detail fest. Diese Fragen sollen in einer gesonderten Verordnung geregelt werden, wie das Sozialleistungsgesetz ausdrücklich vorsieht. Festgelegt ist hingegen, dass ausschließlich Geldleistungen – konkret das Taschengeld im Rahmen der Grundversorgung – reduziert werden dürfen. Die Kürzung darf dabei „jene Höhe nicht übersteigen, die der Hälfte des Taschengeldes im Sinne der Grundversorgungsvereinbarung entspricht“, heißt es im Gesetz. Das bedeutet in der Praxis: Maximal 20 statt 40 Euro pro Monat.

Die Bedenken des Bundeskanzleramts

Im Rahmen des gesetzlich vorgeschriebenen Begutachtungsverfahrens meldete der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts jedoch erhebliche Bedenken an, insbesondere im Hinblick auf Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Zwangs- oder Pflichtarbeit untersagt. In seiner Stellungnahme verweist das Kanzleramt darauf, dass sich der mögliche Einsatz der eigenen Arbeitskraft im Rahmen der Kodex-Maßnahmen auch auf gemeinnützige Tätigkeiten erstrecke. Diese könnten „ihrer Art oder auch ihrem Umfang nach über normale Bürgerpflichten gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK hinausgehen“.

Zweifel äußert das Bundeskanzleramt zudem an der Freiwilligkeit der Unterzeichnung. Wörtlich heißt es in der Stellungnahme, im Zeitpunkt des Angebots der Kodex-Vereinbarung dürfte der betroffenen Person „weder eine Wahlfreiheit hinsichtlich der Unterzeichnung in nennenswertem Ausmaß zukommen noch […] die Art oder das tatsächliche Ausmaß der Tätigkeit von vornherein erkennbar“ sein. Daraus ergebe sich, dass die mit der Unterschrift verbundenen Pflichten „lediglich hingenommen werden, um das Recht erwerben zu können“.

Das Kanzleramt regte daher an, im Gesetz ausdrücklich festzuhalten, dass gemeinnützige Hilfstätigkeiten in Art und Umfang auf normale Bürgerpflichten beschränkt sein müssen.

Landesregierung weist Bedenken zurück

Die Vorarlberger Landesregierung teilte die Einschätzung des Bundeskanzleramts nicht und ließ dessen Anregung unberücksichtigt. Sie hält fest, dass die geplante Regelung keine verpflichtende Tätigkeit vorschreibt, die als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention gewertet werden könnte. Maßgeblich sei allein die Bereitschaft zur Teilnahme an integrationsfördernden Maßnahmen, nicht jedoch eine verpflichtende persönliche Leistungserbringung. Nach Ansicht der Landesregierung ist die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten ohnehin nur mit Zustimmung der betroffenen Person möglich. Dies gelte sowohl für reguläre Beschäftigung als auch für Tätigkeiten im Rahmen der Grundversorgung. Der konkrete Einsatz der Arbeitskraft setze demnach stets Freiwilligkeit voraus. Darüber hinaus werde bei fehlender Mitwirkung nicht der gesamte Leistungsanspruch gestrichen, sondern lediglich das monatliche Taschengeld um maximal die Hälfte reduziert. Aus Sicht des Landes sei diese Maßnahme verhältnismäßig und rechtlich vertretbar.

Eine Verweigerung kommt äußerst selten vor. Im Mai teilte das Land auf Anfrage mit, dass bisher insgesamt 1060 Asylwerbende den Vorarlberg Kodex unterzeichnet hätten, eine Erfüllung von 99,5 Prozent.

Weitere unberücksichtigte Stellungnahmen

Auch andere im Begutachtungsverfahren eingebrachte Stellungnahmen blieben unberücksichtigt. So forderte der Vorarlberger Gemeindeverband, klare Kriterien und objektive Maßstäbe für die beabsichtigte Freistellung von Leistungen festzulegen. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte sprach sich grundsätzlich für Integrationsmaßnahmen aus, schlug jedoch eine partnerschaftlichere Form der Vereinbarung vor – etwa durch eine zweiseitige Unterzeichnung durch das Land und den Asylwerber. Das Justizministerium wiederum kritisierte die geplante Ausweitung der Datenübermittlung als zu unbestimmt und empfahl, die verfassungsrechtlich abgesicherte Einschränkung auf bestimmte Behörden beizubehalten. Auch diese Anregungen fanden bis dato keinen Eingang in den Gesetzestext.