„Der Sandmann“ als Kindheitstrauma

Anja Köhler (2)
E.T.A. Hoffmanns “Sandmann” wird von Ensemblemitglied Maria Lisa Huber am Vorarlberger Landestheater inszeniert.
Im Jahr 1816 erschien „Der Sandmann“ erstmals in der Sammlung „Nachtstücke“. Heute zählt die Novelle zu den bedeutendsten Werken des Schriftstellers E.T.A. Hoffmann, der in seinen schaurigen Geschichten oft Realität und Fantastik vermischt. In „Der Sandmann“ wird eingeleitet von drei Briefen und aus der Perspektive des jungen Protagonisten Nathanael von einem Kindheitstrauma erzählt, das durch die ausufernde Vorstellungskraft zu irrationalem Wahn führt. In düsteren Schilderungen wird die Realität verzerrt wahrgenommen und die mystische Figur des Sandmanns verwandelt sich in Natanaels Fantasie zum Dämon, der sich in der Gestalt des Advokaten Coppelius festsetzt.
Traumwelt
Am Abend des 6. Juni wird das Stück in der Box des Vorarlberger Landestheaters erstmals aufgeführt. Nach ihrer ersten eigenen Inszenierung „Frida – Viva La Vida“ hat Maria Lisa Huber die Regie übernommen, während sie als Ensemblemitglied in vier Produktionen in der aktuellen Spielzeit auch auf der Bühne zu sehen ist. Zusammen mit der Dramaturgin Juliane Schotte hat Huber eine eigene Fassung für Hoffmanns Erzählung geschrieben, in der neben der Wahrnehmung einer Traumwelt auch psychische Krankheiten und das Trauma fokussiert werden.
„Ich hab mich intensiv mit der Traumatherapie beschäftigt“, sagt Maria Lisa Huber, die für die Recherchen eine Professorin aus der Schweiz kontaktiert hat. Angelegt an einen Traumapatienten, der oft Gegenwart und Vergangenheit vermischt, hat die Regisseurin das Kindheitstrauma von Nathanael wie eine „andere Welte“ in das Stück verwoben, die im Laufe der Geschichte in Verbindung mit Tanz immer wieder auftaucht.
In dieser Vermischung von Theater und Performance mit Videoinstallation (Crystin Moritz) finde das Stück in eine „surrealen Projektionswelt“ statt, in welcher der Körper durch das Trauma außer Kontrolle gerät. „Ich finde es interessant, was für einen Ausdruck auch nur der Körper haben kann, um eine Emotion zu transportieren – mit dem Text oder auch ohne.“, beschreibt Huber. Durch Gespräche mit den Darstellerinnen und Darstellern sei das Stück auch mit eigenen Emotionen und Interpretationen gefüllt, die aber nicht direkt erzählt werden.

Sandmanngestalt
„Den Sandmann“ habe Huber als Figur in das Stück gebracht, die es in dieser Weise in der Erzählung nicht gibt. „Der Sandmann, das ist ein böser Mann, der kommt, wenn die Kinder nicht schlafen wollen und streut ihnen Sand in die Augen, dass die Augen blutig herausfallen und bringt sie dann seinen Kindern, (die Schnäbel haben) als Futter ins Nest.“, beschreibt sie die Sandmanngestalt, wie sie von Hoffmann in der Erzählung definiert wird. In ihrer Inszenierung stellt sie den Sandmann mit dem Kindheitstrauma gleich, in der Verkörperung von Silvia Salzmann ist der Sandmann das Trauma, der die Kontrolle über den Menschen auch körperlich an sich nimmt.
Zwischen den performativen Trauma-Sequenzen werde in kurzen Szenen die Handlung rund um Nathanael erzählt. Was das Trauma ist und was Nathanael in der Erzählung erfahren hat – dafür gäbe es sehr viele unterschiedliche Interpretationen, die beispielsweise mit dem Tod des Vaters, einer möglichen Misshandlung der Mutter oder auch mit einem (sexuellen) Missbrauch von Nathanael zusammenhängen.
„Als Zuschauerin und Zuschauer kann man dann auch selbst eine Interpretation für die Geschichte finden“, sagt Huber. „Ich möchte als Regisseurin jetzt niemandem meine Interpretation aufdrängen, sondern genau die Möglichkeit geben, was zu sehen, was man selber sieht. Was sehen wir? Was ist real? Und was ist Fiktion? Was sieht Nathanael?“, thematisiert Huber die Wahrnehmung, die in der Inszenierung eine wichtige Rolle spiele.
Diagnosen
Viele Aspekte, die Hoffmann bereits 1814 in der Geschichte behandelt, seien therapeutisch belegt. Demnach würde sich Nathanael in der Erzählung „oft selbst darüber bewusstwerden, wie es ihm geht“ – „diese Beschreibungen folgen exakt der Diagnose der heutigen Psychotherapie“, erzählt Huber von einem Gespräch und der Analyse einer Psychotherapeutin.
„Das Trauma wird immer als so etwas Negatives konnotiert, natürlich will niemand etwas Schlimmes erleben, aber ich glaube es passiert einfach jedem Menschen, dass er im Laufe des Lebens ein traumatisches Ereignis erlebt.“, sagt Huber. Im Stück habe sie auch die Frage nach dem Umgang damit und mit den eigenen Emotionen gestellt und versucht das Trauma auch in ein positives Licht zur rücken, wofür in dem eigens dazugeschriebenen Schluss plädiert wird: „Nimm den Sandmann, nimm das Trauma an und mach das Beste aus deinem Leben“.
„Der Sandmann“: ab 6. Juni 2024, 19: 30 Uhr, Box, Vorarlberger Landestheater, Bregenz.