Kultur

„Junge, das ist keine Schulaufgabe, sondern der Ozean“

24.09.2024 • 07:00 Uhr
Vermessung der Welt TAK
Ilja Mess
Alle tragen Turnschuhe, ansonsten sind die Kostüme unaufgeregt.

Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ wird zur Vorlage des gleichnamigen Stücks über die bahnbrechenden Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß am Tak Theater Liechtenstein.

Das Tak Theater Liechtenstein ist voll besetzt an diesem an diesem Samstagabend, bei der Premiere von „Die Vermessung der Welt“. Die Welt, das ist für die Zusehenden für diese knapp drei Stunden die Theaterbühne. Um die Adaption des Bestsellerromans von Daniel Kehlmann auf diese Bühne zu bringen, werden die Mittel sparsam verwendet.

Eine große Kugel hängt in der Mitte, die, heruntergelassen, einen Heißluftballon symbolisiert. Für damalige Zeiten ist der Heißluftballon eine unerhörte Neuerung; Carl Friedrich Gauß (1777 bis 1855) fliegt mit und entwickelt dabei eine Formel für jede Bewegung. Halbhoch gezogen symbolisiert die Bühnenkugel wiederum den Mond, der von der Seite angeschienen wird. Die Sterne faszinieren Gauß, er leitet später die neue königliche Sternwarte in Göttingen.

Mit dem Verstand neue Höhen der Menschheit erklimmen

Vermessung der Welt TAK
Um sein richtungsweisendes Buch über die Elektrizität zu schreiben, schreckt Humboldt (Dan Glazer) vor schmerzhaften Selbstversuchen nicht zurück. Ilja Mess

Ansonsten besteht die Bühne aus einem hinten höher werdenden hufeisenförmigen Halbrund, auf dem die vier Schauspieler und die Schauspielerin stehen, laufen, kriechen, mit dem Verstand neue Höhen der Menschheit erklimmen oder in dessen Mitte sie fallen, den Niederungen des Lebens ausgesetzt. Eine minimalistische Bühne, ab und zu in Nebel gehüllt, mit dem berühmten Immanuel-Kant-Zitat „Die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit… Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, das auf die Rückwand projiziert wird, während die Zuschauenden ihre Plätze suchen. Manchmal wird ein Schauspieler an die Wand projiziert, wie er oder sie einen Erzählertext spricht. Requisiten gibt es keine, außer einem Zettel mit dem Heiratsantrag von Gauß (Oliver Reinhard) an „seine“ Johanna. Diese stirbt bei der Geburt des zweiten Sohnes, was bei Gauß zu noch mehr Lebensverdruss führt. „Die Menschen wollten Ruhe, essen, schlafen, dass man nett zu ihnen war. Sie brauchten Pausen beim Sprechen“, heißt es einmal. Gauß brachte sich an einem einzigen Nachmittag das Lesen bei und legte mit 24 Jahren das grundlegende Werk der modernen Zahlentheorie „Disquisitiones Arithmeticae“ vor. Professuren in Berlin, Leipzig und Sankt Petersburg schlägt er aus. Menschen, die ihm fremd sind, sind ihm nicht geheuer. Er zieht die Studierstube vor.

Vermessung der Welt TAK
Das Hufeisen wird zum Sitzen, Gehen, Stehen und vielem mehr genutzt. Ilja Mess

Bei Goethe erkundigt, wie ihre Söhne zu erziehen seien

Ganz anders Alexander von Humboldt, gut gespielt von Dan Glaser. Er trägt einen Frack und eine schwarze Schluppenbluse. Damit wird die damalige Zeit angedeutet, das Höfische, der Mann aus der besseren Gesellschaft. Humboldts Mutter hatte sich bei Goethe erkundigt, wie ihre Söhne zu erziehen seien; Wissen trifft beim jungen Humboldt auf Wissensdurst. „Ich will das Leben erforschen. Man will wissen, weil man wissen will“, sagt er. Mit neun Jahren baut er den zweiten Blitzableiter Deutschlands, später begründet er die Höhlenbotanik und gründet die erste Berufsschule für Bergleute. Er lernt den Arzt und Botaniker Aimé Bonpland kennen und reist unter der Flagge des spanischen Königs Carlos IV. von 1799 bis 1804 durch Süd- und Mittelamerika.

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Das ewig Weibliche zieht Humboldt nicht hinan. Ilja Mess

Es gibt immer ein Weiter

Die fünf Schauspieler nehmen spielerisch verschiedene Rollen ein. Oliver Reinhard amüsiert etwa durch die kauzige Darstellung des Kapitäns auf See. „Wir werden in drei Tagen Land erreichen“, sagt Humboldt zu ihm. „Junge, das ist keine Schulaufgabe, sondern der Ozean“, rüffelt ihn der Kapitän. „Man muss nur die Strömungen korrekt berechnen“, sagt Humboldt und sollte recht behalten. Nicht umsonst gibt es bis heute den Humboldtstrom. „Ich rechne nicht damit, lebend zurückzukehren“, hatte Humboldt vor seiner Abreise gesagt. Er kehrt zurück und wird später Gauß treffen. „Es gibt immer ein Weiter“, sagen beide – sicher bis heute der Antrieb der Wissenschaft – und beide leiden unter der Endlichkeit des Lebens. Dem Schlaf, den Dummen, dem Tod. „Wird die Wissenschaft den Tod überwinden?“, diese Frage lässt Regisseur Oliver Vorwerk am Schluss im Raum stehen. Die Hauptperson an diesem Abend, die das Publikum begeistert, ist der Text. Ihm ordnet sich alles unter. Die Leben der zwei Wissenschaftler werden kristallklar herausgearbeitet, Witz und Pointen eingebaut. Was offenbleibt, ist die Frage, wohin uns dieses die eigenen Grenzen übergehende Wissenschaftsverständnis geführt hat und führen wird.