Jede Minute wird ein Haus zerstört

Vorarlberger Architektur Institut lud zum Studientag mit Impulsen zur Nachhaltigkeit in Politik und Kulturgeschichte.
“Werden wir den Wandel by Design oder Disaster schaffen?“ – fragte Verena Ringler zu Beginn ihres Vortrags. Sie ist die Gründerin der NGO Agora European Green Deal und arbeitet an der Schnittstelle zwischen europäischer Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Aussage der Politologin verdeutlicht die Vehemenz ihrer Mission und die Mittel, mit denen sie dieser nachgeht.
Green Deal als Herzstück der neuen Kommission
Als Gastreferentin im Vorarlberger Architektur Institut leitete Ringler gemeinsam mit Direktorin Verena Konrad durch den Studientag. Unter dem Motto „Von der Blue Marble nach Brüssel“ widmete sich dieser mit weitem Blick dem Versuch ökosozialer Praxis, auch über die Architektur hinaus. Dabei erstreckten sich die Themen vom Green Deal der EU zur Bürgerinitiative „House Europe!“ bis in die Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit.

Ringler wirkte wie eine selbstkritische Botschafterin für die europäische Sache. Denn am Anfang ihres Beitrags stellte sie fest, dass die EU ein Imageproblem hat: „Augenhöhe ist notwendig, aber für Brüssel als Hauptstadt schwer zu liefern.“ Aufklärung über Zustand und Zukunft des Green Deal ist ihr Mittel dagegen. Dieser sei Herzstück der Kommission von der Leyen und führe das Staatenbündnis weitab von grüner Parteipolitik auf den Weg zur Klimaneutralität, jedenfalls bis 2050. Dabei setzt er auf fortlaufende Dekarbonisierung der Wirtschaft. Während die Rezession mit keinem Wort erwähnt wurde, hob sie die Innovations- und Produktivitätsdefizite der EU gegenüber China und den USA hervor. Doch da Industriepolitik in den Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten fällt, gestaltet sich der Wandel äußerst kompliziert. Dieser Teil des Tages repräsentierte die Mittel, mit denen Politik von Oben herab wandel designt.
Bürgerinitiative für Sanierung als neuer Standard
Konrad setzte mit der europäischen Bürgerinitiative „HouseEurope!“ fort. Diese startet kommenden Februar mit dem Ziel, Renovierungen von Häusern zur neuen Norm zu machen. Ihr mittelfristiges Ziel erreichen sie aber nur, wenn eine Million Personen für die Initiative abstimmen. Dann wäre die Kommission gezwungen, über die Vorschläge zu diskutieren. Möglich ist das seit 2012, bisher aber nur zehn Mal gelungen. Dabei kann nicht in einem konkreten Amt, sondern nur online, nach einer Registrierung mit Pass abgestimmt werden.

Ausgang nahm das Bemühen vor einem Jahr an der ETH Zürich, wo in Fachkreisen die ökosoziale Wende des Wohnbaus diskutiert wurde. „Es gab einen spannenden Moment, in dem eine Abteilungsleiterin im deutschen Umweltamt darüber sprach, dass man für das Entfernen eines Baumes eine Bewilligung braucht, aber nicht für ein Haus“, erinnert sich Konrad. Sie ist davon überzeugt, dass auf einen Abriss selten etwas Gutes folgt und vertritt die Initiative in Österreich.

Zur Veranschaulichung des Begehrens wurde den Besuchern ein eigens gedrehter Film vorgeführt. „The Demolition Drama“ lässt die Beteiligten zu Wort kommen. Dabei spart er nicht an Dreistigkeit. So lässt er die Sehenden wissen, dass jede Minute ein Haus in Europa zerstört wird und der Zugang zu Raum unter Druck der Finanzindustrie laufend schmaler wird.
Lobend hob Konrad hervor, dass in Vorarlberg bereits viele Bauten saniert werden und es das Potenzial für die Handwerksbranche veranschaulicht. Bilder wie diese sind für ihr Gelingen notwendig, denn strategisch wendet sie sich an die Kommission mit Lösungen für deren Probleme. Etwa durch die Senkung der Mehrtwertsteuer auf Sanierung, wie sie auch Heimo Scheich, CEO der Wienerberger AG fordert.
Bild der Erde aus dem All
Der letzte Teil widmete sich unter Beteiligung der Gäste einer Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit, mit Fokus auf spirituellen Naturbezug, Ahnen der Ökologie und Höhepunkte der modernen Umweltbewegung. So konnte man hören, dass der Sonnengesang Franz von Assisis das älteste Dokument dieser Geschichte sei. Mit Hans Carl von Carlowitz und Anna Amalia wurden zwei Begründer der nachhaltigen Forstwirtschaft geehrt. Bis dann im 20. Jahrhundert mit der „Blue Marble“ ein Foto der Erde aus dem All um den Globus ging. 2015 fand die Geschichte ihre scheinbare Krönung. In diesem Jahr wurde das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet, die Nachhaltigkeitsziele der UN beschlossen und die sozialökologische Laudato si’ des Papstes veröffentlicht.