„Als ob die Zeit stehen bleiben würde“

Hannes Mayer war live dabei bei dem spannenden Gespräch zwischen Toni Innauer und Lukas Mähr über ihren Olympiasieg.
Auf Initiative der NEUE trafen sich am 20. September im Hotel „Die Krone von Lech“ die beiden Vorarlberger Olympiasieger Toni Innauer (66) und Lukas Mähr (34). Die beiden Champions waren sich davor noch nie begegnet, trotzdem entwickelte sich in Minutenschnelle ein angeregtes Gespräch in privater Atmosphäre, das von NEUE-Sportchef Hannes Mayer begleitet und punktuell moderiert wurde. Teil zwei des über zweistündigen, denkwürdigen Gesprächs.
Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Iframely angezeigt.
Wie habt ihr bei Olympia den Druck auf euch unmittelbar vor der Medaillenentscheidung wahrgenommen?
Lukas Mähr: Ich konnte auf die verschiedensten Erfahrungen zurückgreifen, die ich als Athlet in all den Jahren gesammelt habe. Ich war bei olympischen Spielen zwei Mal Co-Kommentator. Dabei erlebte ich, wie speziell 2016 in Rio bei gewissen Sportlern kurz vor dem Medaillengewinn plötzlich ganz viele Leute aufgetaucht sind – und wie sich dadurch spürbar die Atmosphäre verändert hat. Bei uns war das auch so. Am Abend vor dem Medal Race kamen angespannte ÖOC-Funktionäre auf mich zu, einer legte die Hand auf meine Schulter und sagte zu mir: Ihr bringt das eh nach Hause, oder? Weil, du weißt ja, wir haben noch keine Goldmedaille. Der Satz mit der fehlenden Goldmedaille fiel, glaube ich, zwei oder drei Mal. So dankbar ich für all die Unterstützung bin, die ich auf meinem Weg erhalten habe – aber so was hilft einem in so einer Situation überhaupt nicht.
Toni Innauer: Das weckt Erinnerungen bei mir an Innsbruck 1976. Wir mussten uns vor dem zweiten Durchgang zu Fuß unseren Weg durch die Menschenmengen bahnen, 60.000 Zuschauer waren da. Es war unvorstellbar. Alle paar Meter wurde ich aufgehalten: Toni, du bringst das eh runter, oder? Ich habe auf dich gesetzt! 50 Schilling! Oder: Komm, gib mir schnell noch ein Autogramm, die Zeit hast du noch. Ich war fix und fertig, als ich oben am Turm angekommen bin.
Mähr: Ich kann das so gut nachempfinden. Als die Funktionäre auf mich zukamen, war Lara gerade nicht da, das heißt, das alles ist auf mich alleine eingeprasselt. Das war dann wirklich ein Moment, in dem ich gesagt habe: Lasst mich bitte in Ruhe. Plötzlich hatte ich nämlich genau die Bilder vor Augen, wie 2016 in Rio mehrere Athleten kurz vor der Medaille eingebrochen sind, weil eben alle möglichen Leute meinten, auf sie einreden zu müssen. Deshalb habe ich in der Situation die Notbremse gezogen.
Innauer: Solche Funktionärsauftritte solltest eigentlich nicht du als Athlet unterbinden müssen, sondern ein Management oder Leute drumherum, die Begegnungen wie diese von dir fernhalten. Aber es wird halt wie immer gewesen sein: Bei so Großereignissen gibt es nie ausreichend Akkreditierungen für alle Trainer und Betreuer, und plötzlich bist du in so einer Situation auf dich alleine gestellt.
Mähr: So ist es, außerdem kannst du dich im Vorfeld zwar darauf vorbereiten, wie du dich selbst verhältst, aber nicht darauf, was im Hintergrund eventuell passieren könnte. Das ist nicht lösbar – weil so vieles außerhalb deines Einflusses liegt.
Innauer: Wenn du das erste Mal bei olympischen Spielen dabei bist, rechnest du mit solchen Erlebnissen gar nicht.
Mähr: Das ist der Punkt.
Innauer: Und wenn dann solche Sachen passieren, fragst du dich: Was ist jetzt los? So war das auch bei uns im Skiverband. Bei Weltcupspringen hatten wir unsere Container, da hat man sich umgezogen, jeder hatte seine Rituale, alles war verlässlich. Bei Großereignissen standen plötzlich irgendwelche Funktionäre bei uns im Container, insbesondere Vizepräsidenten waren für solche Aktionen gefährdet, sie schauten mich als Trainer und den jungen Andi Goldberger mit großen Augen an und veränderten damit alles. In so einer intimen Zone hat niemand etwas verloren, diese Atmosphäre baust du über Jahre hinweg auf, entwickelst ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit. In einem Fußball-WM-Endspiel stolpern in der Halbzeitpause ja auch nicht irgendwelche Verbandsleute in die Kabine. Deshalb habe ich mit solchen Methoden aufgeräumt. Ich sagte: Ich schätze euch alle, aber bei einem Großereignis kommt mir keiner mehr in den Container. Keiner mehr!

Mähr: Toni, wenn du wüsstest, wie du mir aus der Seele sprichst. Vor einer Medaillenentscheidung muss man bei sich bleiben können, was ja schon ohne solche äußeren Einflüsse schwer genug ist.
Innauer: Ganz genau. Egal ob Präsident oder Vizepräsident, ich lasse mir doch weder als Trainer noch als Athlet durch solche Auftritte in so kritischen Momenten die jahrelange Arbeit kaputtmachen. Ich sagte zu den Oberen beim ÖSV: Ihr könnt mich rauswerfen, das ist mir egal, aber das lasse ich nicht mehr zu. Noch heute sagen gewisse Leute zu mir: Gott sei Dank, Toni, hast du mit diesen Sachen aufgeräumt. Heute wird eher schüchtern nachgefragt, wo und wann sie vielleicht dazustoßen könnten. Wir reden da wie gesagt von Vizepräsidenten oder Funktionären aus der zweiten Reihe, die, falls es was zu feiern gibt, eben nahe dabei sein wollen, um etwas vom Glanz des Medaillengewinns abzubekommen. (lacht)
Mähr: Einerseits ist das ja voll verständlich, diese Menschen setzen sich für die Athleten ein und wollen dann halt im Erfolgsfall gesehen werden. Aber andererseits ist es schon sehr befremdlich, weil sie damit den Erfolg, den sie ja auch wollen, massiv gefährden. Wir waren bei den Spielen schon sehr strikt. Wir hatten unser Athletenhaus, unseren Container, da ist grundsätzlich niemand außer den Trainern hineingekommen. Aber die Funktionäre, von denen wir hier sprechen, haben ja so viele Akkreditierungen, die hatten überall Zutritt. Ich weiß noch, wie ich in der Situation zu den Funktionären sagte: Ich kann euch jetzt nicht brauchen. Innerlich musste ich lächeln, weil ich wusste, dass ich mir damit etwas Gutes getan hatte, und ich wusste auch, dass ich durch meine Erfahrungen von Rio wusste, wie ich damit umgehen musste.
Innauer: Das war ein Riesenvorteil. Aber es kostet Überwindung. Wie ist das denn bei euch beim Medal Race, welche Gewichtung hat das Rennen?
Mähr: Du nimmst die Wertungen davor schon mit, aber das Ergebnis des Medal Race zählt doppelt. Diese Regelung hat man wegen Roman Hagara und Hans-Peter Steinacher eingeführt, die hatten 2000 in Sydney so einen großen Vorsprung, dass sie die letzten Rennen gar nicht mehr fahren mussten – und da hieß es verständlicherweise, dass das unserem Sport nicht guttut. Das Medal Race ist kürzer und somit fernsehtauglicher, und dadurch, dass es wie zwei Rennen gewertet wird, kann noch viel passieren.
Innauer: Das ist eine Parallele zu den Zeiten von Matti Nykänen, der jahrelang den Skisprunglauf dominiert hat. Ich war damals bei der FIS und habe am Reglement herumgebastelt, weil Nykänen zum letzten Springen in Planica, bei dem die Kugelübergabe stattfand, einfach nicht mehr erschienen ist – er hatte die Weltcupwertung schon gewonnen und hatte offensichtlich Besseres vor. Meine Überlegung war, beim letzten Springen doppelte Punkte zu vergeben, dadurch musste er dabei sein, so groß war auch sein Vorsprung nicht. Ich habe ihn trotzdem sicherheitshalber angerufen und gesagt: Matti, dieses Mal kommst du aber zum Springen. Ich sollte damals nämlich für den Hauptsponsor des Skisprung-Weltcups, Ellesse, die Kugel übergeben und wollte mir die Peinlichkeit ersparen, dass ich alleine dastehe.
Mähr: Was völlig nachvollziehbar ist. Es ist so wichtig, den Sport gut zu verkaufen. Mir geht es auch in dieser Hinsicht wie dir: Ich bin im Management-Komitee der internationalen Segelvereinigung der 470er-Klasse, und wir überlegen uns, wie wir in den kommenden Jahren die Wertungen umstellen können, damit es noch interessanter für die Zuschauer wird. Derjenige, der beim Medal Race als Erster durchs Ziel geht, sollte idealerweise auch Erster in der Endwertung sein. Damit es verständlicher wird.
Innauer: Mit solchen Reglementanpassungen hat auch das Skispringen einen großen Schritt nach vorne gemacht. Wir waren zwar immer schon ein populärer Sport für die Zuschauer an der Schanze, aber im Fernsehen hat der Sport nicht funktioniert. Wenn ein Sprung zu weit ging, wurde der gesamte Durchgang annulliert, und es ging von vorne los.
Mayer: 120 Springer in beiden Durchgängen, wenn der 105. Springer über den K-Punkt gesprungen ist, ging es von vorne los, teilweise mehrfach pro Wettbewerb.
Innauer: Und da haben die Menschen verständlicherweise gesagt, das ist mir zu blöd, ich gehe Ski fahren, das dauert eh noch stundenlang. Mit dem reduzierten Teilnehmerfeld schafften wir es auf eine Wettkampfdauer von 90 Minuten, durch die arithmetische Wertung der Weite, die sich am Wind und der Luke orientiert, kann man nun unterschiedliche Bedingungen und Anlauflängen ausgleichen. Das habe ich alles schon 1981 vorgeschlagen, damals hieß es, der Innauer hat einen kompletten Vogel. Im Winter 1990/91 hat man es begonnen umzusetzen.

Mähr: Die Frage ist, wie wir das Medal Race anschaulicher machen, ohne die vorherigen Rennen zu entwerten. In der Formel 1 ist es logisch, dass der Sieger des letzten Rennens nicht zwingend der Weltmeister ist. Viele andere Sportarten schaffen es nicht, diese Verständlichkeit zu transportieren, der Segelsport gehört leider eindeutig zu diesen Sportarten.
Innauer: Wie viele Wettfahrten habt ihr?
Mähr: Zehn, zwei pro Tag.
Innauer: Das ist schon viel.
Mähr: Das ist zu viel, und das müssen und werden wir ändern.
Innauer: Spannend ist in dieser Hinsicht der Gegensatz. Unsere beiden Sportarten verbindet das Hauptelement Luft, aber was die Dauer betrifft, unterscheiden sich die beiden Sportarten elementar. Beim Skispringen hast du einen der kürzesten Leistungszeiträume im Sport überhaupt, der Sprung dauert sechs Sekunden, und ihr Segler hängt gefühlte Stunden in den Booten. Im Skispringen ist jede Zehntelsekunde entscheidend, versäumst du den Absprung um eine Zehntelsekunde, kannst du den Sprung abhaken. Aber was macht man als Segler über den langen Zeitraum einer Wettfahrt? Ich stelle mir das bei meinem Temperament schwierig vor, du siehst, wie der Japaner immer näher kommt, und kannst überhaupt nichts machen. Andererseits wird das ja auch das Spannende am Segeln sein, solche Situationen auszugleichen. Die psychologische Belastungsform ist doch völlig anders als beim Skispringen?
Mähr: Durch die Dauer des Leistungszeitraums ist die Belastung natürlich eine andere, aber trotz der langen Wettfahrtdauer gibt es bei uns keine Phasen des Abwartens. Wir haben ständig den vollen Fokus, die Bedingungen verändern sich fortlaufend – darauf gilt es zu reagieren.
Innauer: Du wirst ja mit deiner Segelpartnerin Lara Vadlau am Kommunizieren sein während den Wettfahrten. Aber ist man dabei ständig bei der Sache, oder redet man während eines einstündigen Rennens auch mal über Alltägliches? Unter dem Motto: Bei dir zu Hause alles okay? (alle lachen)
Mähr: Früher soll das so gewesen sein, da haben manche Segler sogar während den Wettfahrten geraucht. (alle lachen laut) Aber das war eben früher. Lara und ich reden unaufhörlich miteinander. Wo sind unsere Gegner, wo ist der Wind, wo die Welle? Wie können wir das Boot schneller machen, was spürt sie, was spüre ich?
Innauer: Wo spürt man die Geschwindigkeit?
Mähr: Am Hintern, an den Zehen, ich habe auch nie eine Mütze auf, weil ich das Tempo besonders an den Ohren gut spüre und an den Ohren auch fühle, wenn sich der Wind verändert. So lustig das klingt: Frisuren, die über die Ohren gehen, sind eher nicht so gefragt bei uns. Ich finde es so spannend, wenn Skispringer über ihren Sprung erzählen, der nur ein paar Sekunden dauert. Trotzdem habe ich das Gefühl, ihr erlebt so viel, wie andere Sportler in Stunden. Darum verstehe ich deine Frage: Ihr Segler habt so viel Zeit, was macht ihr da eigentlich? Aber die Wettfahrten, die etwa 45 Minuten dauern, sind in kürzester Zeit vorbei. Alles geht so schnell. Vielleicht, weil wir ständig in Aktion sind. Ihr dagegen schildert in einer Detailtreue euren Sprung, als ob bei euch die Zeit stehen bleiben würde.
Innauer: Der Eindruck ist richtig, die Zeit dehnt sich während des Sprungs. Wenn du vom Sprung wenig mitbekommst, hast du ihn ziemlich sicher verhaut. Wenn du aber den Sprung triffst, dann dehnt sich die Zeit so dermaßen, du merkst beim Absprung, dass du genau am Punkt bist, du spürst den Schwerpunkt, alles geht dir, wie man so schön sagt, durch Mark und Bein.
Mähr: Wenn du alle Einflüsse wahrnimmst, dann hast zu den Zustand erreicht, in dem du völlig eins mit deinem Sport bist. Wir sind mit sieben Punkten Vorsprung ins Medal Race gegangen, was zwar ein gewisses Polster war, aber wir hätten auch noch auf den vierten Rang zurückrutschen können.
Innauer: Wie seid ihr mit der Ausgangslage umgegangen?
Mähr: Die einfache Antwort auf die Frage wäre, sehr gut, wir haben ja die Goldmedaille gewonnen. (alle lachen)
Innauer: Ich kenne das, die Goldmedaille ist schon ein sehr gutes Argument.
Mähr: Letztendlich fällt auch meine ernst gemeinte Antwort simpel aus: Wir haben es einfach gehalten. Am Tag des Medal Race genau so wie in den Tagen davor. Wir sind unserer Routine gefolgt und haben uns immer nur auf den nächsten Schritt konzentriert. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass ich seit Jahren mit dem Sportpsychologen Chris Uhl zusammenarbeite. Dadurch wusste ich in jedem Rennen, was als Nächstes auf mich zukommt. Ich wollte in einer Rennsituation nie in die Lage kommen, dass ich darüber nachdenke, ob wir Erster, Zweiter oder Dritter werden. Lara und ich haben das so auf die Spitze getrieben, dass wir nicht gewusst haben, auf welchem Platz wir liegen, als wir nach dem Medal Race im Ziel waren.
Innauer: Sensationell, Lukas, sensationell!
Mähr: Manche sagen, das ist ja peinlich, dass ihr nicht wusstet, welche Medaille ihr hattet. Das war nicht peinlich, im Gegenteil, wir haben damit genau das umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten.
Innauer: Ihr seid in eurem Prozess geblieben.
Mähr: Ganz genau, wir haben uns von der Bedeutsamkeit des Rennens nicht beeindrucken lassen, sondern sind einfach gut gesegelt – das war für uns die Auszeichnung als Athlet, dass wir bei aller Brisanz den Fokus behalten haben. Die Goldmedaille war die Belohnung dafür.
Innauer: Lukas, das versteht das Umfeld einfach nicht. Es ist der Königsweg, das wahrzunehmen, und zwar nur das, was du in deinem Sport wahrnehmen musst, um deine beste Leistung abzurufen. Gab es denn im Medal Race trotzdem einen kritischen Moment? Oder anders gefragt: Lief etwas außerplanmäßig?
Mähr: Wir waren darauf vorbereitet, dass die Spanier möglicherweise gegen uns segeln werden, sie waren Zweite und damit unser Hauptkonkurrent um Gold.
Innauer: Was bedeutet gegen euch segeln?
Mähr: Dass sie uns abdrängen wollen, speziell beim Start. Es war ein sehr unwahrscheinliches Szenario, weil in der Gesamtwertung eigentlich alle Teams sehr nahe beieinander lagen und eine solche Aktion für die Spanier das große Risiko barg, dass sie ihre Medaille verlieren. Trotzdem haben wir uns darauf vorbereitet, um nicht überrascht zu sein, wenn sie diesen Trick auspacken. Aber gerechnet haben wir nicht damit, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie wirklich alles auf eine Karte setzen. Sie haben es wirklich gemacht.
Innauer: Das überrascht mich selbst in der Nacherzählung.
Mähr: Die Spanier waren Welt- und Europameister 2024, lagen vor dem Medal Race an zweiter Stelle und haben 1:30 Minuten vor dem Start angefangen, gegen uns zu segeln.
Innauer: Ich stelle mir das so vor, dass man vor dem Start cruist und versucht, sich in die beste Position zu bringen – und in der Situation haben euch die Spanier attackiert.
Mähr: Richtig, wir haben Kurven gedreht, damit sie uns keinen Regelverstoß anhängen konnten, was offensichtlich die spanische Taktik war. Durch dieses Manöver sind wir beide als Letzte zum Start gekommen, die Spanier als Vorletzte, wir als Letzte, allerdings ganz dicht zusammen. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass es ein richtig schwieriges Rennen wird. Aber wir mussten genau, was zu tun war.
Innauer: Die Spanier wussten doch ihr eigenes Rennen segeln?
Mähr: Eigentlich schon, darum war es ja so unlogisch. Sie wollten unbedingt gewinnen – diese Lehre ziehe ich daraus: Sie waren nicht bescheiden, ich sage es gerade heraus, sie waren arrogant. Aus dieser Arroganz heraus, dass nur Gold gut genug für sie ist, haben sie alles verloren. Wobei in dem Fall die Verantwortung dafür schon der Steuermann trägt, das war schon seine Idee, für solche Aktionen ist er bekannt.
Innauer: Was für ein Verhältnis hast du zu ihm?
Mähr: Mein Fall ist er nicht, weil ihm jedes Mittel recht ist und er eigentlich keine Grenzen und Regeln akzeptiert, aber ich respektiere ihn, weil er alles reinhaut und alles gibt für den Sport.
Innauer: Leider gibt es nach wie vor diese Sportler mit der Einstellung: Wenn ich gewonnen habe, fragt keiner mehr nach dem Wie, dann interessiert es niemanden mehr, ob ich fair war oder nicht. Doch da fällt mir den Spruch von Baldur Preiml ein: Olympiasieger wird nur der, der es verdient.
Mähr: Da kann schon was dran sein. Eine Olympiamedaille ist so was Großes, aber der spanische Steuermann hatte nicht die Wertschätzung für diese Größe. Er wollte alles gewinnen und hat alles verloren, ist vom zweiten auf den vierten Platz zurückgerutscht.
Innauer: Das ist eine verrückte Geschichte.

Mähr: Toni, was sind deine spontanen Erinnerungen an deinen Olympiasieg? Nach so vielen Jahren ist der Rückblick ja sogar noch spannender für dich.
Innauer: Unsere Geschichten haben erstaunliche Parallelen. Mein Olympiasieg in Lake Placid steht im unmittelbaren Zusammenhang mit meinem zweiten Platz in Innsbruck vier Jahre davor. Ich habe viel gelernt in Innsbruck und habe danach im mentalen Bereich sehr stark darauf hingearbeitet, dass mir in Lake Placid das gelingt, wovon du gerade erzählt hast: Dass ich mich nicht verrückt machen lasse und nicht an ein Ergebnis denke. Mein Wunsch war: Ich möchte nach dem ersten Durchgang noch mal die Chance auf eine Medaille haben – und dann will ich mich besser bewähren. Ob ich dann eine Medaille gewinne oder nicht, war eine andere Sache; aber ich wollte im Kopf so klar beim Sport bleiben, wie ich es mir gewünscht hätte in Innsbruck zu sein. In Innsbruck ist mir als 17-Jähriger in der Pause zwischen den beiden Durchgängen alles aus den Händen geglitten. Auf diese Situation habe ich mich vor Lake Placid vorbereitet. Ich sagte mir: Toni, du musst eine Freude am Skispringen haben, dich auf den Sport konzentrieren, Spaß an dem haben, was du am besten kannst und das ganze Jahr über trainierst. So musst du es durchziehen. Was dann dabei rauskommt, kannst du direkt ja sowieso nicht beeinflussen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, wenn du mit Freude bei der Sache bist und dich auf die Abläufe konzentrierst, dass du dann relativ viel von deinem Potenzial abrufen kannst. Das klingt jetzt so simpel, aber genau das habe ich in Innsbruck nicht zusammengebracht. 1976 dachte ich, ich kann das eh, wenn ich vorne bin, dann nimmt mir das keiner mehr. In Wahrheit bin ich überrascht darüber gewesen, was plötzlich mit mir passiert ist. Meine Einstellung war: Euch zeige ich es, ich bin der Beste, den zweiten Durchgang kann man eigentlich absagen. Ich war dem Ganzen nicht gewachsen, das war dann auch der Grund, warum mein zweiter Sprung nur so lala war. Von der Zeit vor Lake Placid ist mir in Erinnerung geblieben, wie ich wochen- und monatelang meditiert habe und mir vorstellte, wie es sein würde in Lake Placid. Ich verbildlichte mir, dass es sehr kalt sein würde, dass ich mit Freude einen frischen Sprung mache und es mir wurscht ist, dass die Medien da sind und andere irgendwelche Erwartungen an mich haben. Ich habe mir vorgestellt, wie mir das alles egal war, und mich einfach nur auf meine Sprünge konzentrierte. Und so ist es gekommen. Es war alles wie in Trance. Ich führte nach dem ersten Durchgang mit drei Punkten Vorsprung. Damals hatten wir noch gar keine Container als Rückzugsort für die Pause, sondern hatten ein Wohnmobil angemietet. Ich weiß noch, wie Hupo Neuper und ich im Wohnmobil so dalagen und ich sagte: Hupo, schau dir’s an, jetzt mache ich es besser als in Innsbruck. Und er sagte: Spinnst du komplett, jetzt an Innsbruck zu denken? Das ist egal, habe ich ihm geantwortet, es geht um etwas ganz anderes. Ich mache es jetzt besser.
Mähr: Das hat spirituelle Züge.
Innauer: Ich war mir meiner zu 100 Prozent sicher – nicht, dass ich gewinne, das war mir egal. Mein Zugang war: Ich bin es mir schuldig, dass ich jetzt hinauf auf den Turm gehe und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten einen geilen Sprung mache, darauf habe ich vier Jahre gewartet. Wenn es reicht, dann reicht es, wenn nicht, dann eben nicht. Ich hatte dann auch etwas Glück mit dem Wind – ich bin weit runtergesprungen. Aber ich hatte eine ganz frühe Startnummer, weil es noch keine Setzung gab, ich hatte die Nummer 20 und musste noch ganz lang warten. Ich wusste: Wenn jetzt einer viel Aufwind hat und weit über den K-Punkt springt, dann wird abgebrochen und der Durchgang wiederholt. In der Situation habe ich es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen.
Nächste Woche: Fleiß und Talent, Leistungskultur und Lösungen
Toni innauer
Geboren am: 1. April 1958 in Bezau
Wohnhaft: Thaur in Tirol
Familie: Verheiratet mit Marlene, insgesamt vier Kinder
Sportart: Skispringen
Verein: SC Bezau
Größte Erfolge, Auswahl: Olympiasieg auf der Normalschanze (1980), Olympiasilber auf der Großschanze (1976); Weltmeister (1980); zweifacher Skiflug-Weltrekord (5. und 7. März 1976 in Oberstdorf, 174 bzw. 176 Meter); erster Skispringer der Geschichte mit der Haltungsnote fünf Mal 20,0 (6. März 1976 in Oberstdorf)
lukas mähr
Geboren am: 23. April 1990 in Bregenz
Wohnhaft: Bei Wiener Neustadt
Familie: Verheiratet mit Christine, zwei Kinder
Sportart: 470er-Segler
Verein: Yachtclub Bregenz
Segelpartner: Bis 2021 David Bargehr, seit Herbst 2021 Lara Vadlau
Größte Erfolge: Olympiasieg (2024); WM-Bronze (2017)
Ehrung: Österreichs Mannschaft des Jahres 2024 mit Lara Vadlau