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Wenn in der Osternacht die Hähne krähen

18.04.2022 • 17:00 Uhr
Der Hahn in der Kiste wird dem Mädchen auf das Dach gehängt. <span class="copyright">Hartinger </span>
Der Hahn in der Kiste wird dem Mädchen auf das Dach gehängt. Hartinger

In Schoppernau hat sich einzigartiges Osterbrauchtum erhalten.


Wer am Ostersonntag in der Früh durch Schoppernau fährt, wundert sich wahrscheinlich: Auf den Straßen und vor manchen Häusern liegt Sägemehl.

Alle Spuren führen in Richtung Kirche. Weshalb ist das schmucke Wälderdorf gerade am höchsten katholischen Feiertag verschmutzt? Die Antwort ist: Das Sägemehl ist Teil eines Brauches, den es in dieser Form nur in Schoppernau gibt. In der Osternacht hängen die 18-jährigen Buben ihren Jahrgängerinnen einen lebenden Hahn, der in einer Kiste ist, auf das Dach. Zusätzlich streuen sie Sägemehl von den Häusern der Mädchen bis zur Kirche.
Heuer war es für den Jahrgang 2004 so weit. Sechs Buben – Mario, David, Tobias, Jonas, Valentin und Felix – beglücken acht Mädchen mit Hahn und Sägemehl. Wobei Letzteres manchmal eher ein Unglück als ist. Doch dazu später mehr.

Die Kiste mit dem Hahn hängt, das Sägemehl ist gestreut. Die Mutter des Mädchens hat die Buben zuvor freundlich begrüßt. <span class="copyright">Hartinger</span>
Die Kiste mit dem Hahn hängt, das Sägemehl ist gestreut. Die Mutter des Mädchens hat die Buben zuvor freundlich begrüßt. Hartinger

Start für das „Giggolar-Ufhingo“, wie der Brauch auf Wälderisch heißt, ist um 2 Uhr. Treffpunkt ist beim Haus eines der Buben im Ortsteil Gräsalp. Hier wird Leben in die ansonsten ruhige, vollmond-helle Nacht gebracht: Ein Schlepper, voll beladen mit Sägemehl, fährt vor und erleuchtet die Szenerie, an die 20 junge Menschen stehen vor dem Haus, manche verschwinden dann wieder dahinter. Diejenigen, die nicht zum Jahrgang 2004 gehören, machen aus Freude an der Sache mit. Es läuft Musik, und einige Buben verstauen helle Holzkisten auf einem Mähtrak. Ein Blick in die Kisten offenbart, dass es sich um schöne Hähne handeln. Einer hat sein Köpfchen unter dem Flügel, er schläft.

Jonas und Valentin beim Aufhängen eines Hahnes. <span class="copyright">Hartinger</span>
Jonas und Valentin beim Aufhängen eines Hahnes. Hartinger

Wann genau dieses Brauchtum entstanden ist, ist nicht bekannt. Früher streuten die 18-jährigen Burschen jedenfalls Eierschalen statt Sägemehl. Hahn und Eier sind Fruchtbarkeitssymbole. Bekannt ist, dass die 18-jährigen Mädchen anno dazumal am Ostersonntag zum ersten Mal mit dem „Schalk“ – das ist ein kurzes schwarzes Jäckchen, das zur Juppe getragen wird – in die Messe gehen durften. Auch schritten sie ab diesem Zeitpunkt durch das Hauptportal, und nicht mehr durch den Seiteneingang, in die Kirche. Der Schoppernauer Schriftsteller Franz Michael Felder (1839 – 1869) erwähnt in seinem Buch „Arm und Reich“ kurz den Brauch des „Schalkbiggels“ (Biggel ist ein Küken, Anm.), wie die frühere Ortschronistin von Schoppernau, Ingrid Manser, berichtet. Es heißt bei Felder: „(…) Nun aber vertauscht das Mädchen diese Ärmel mit dem engen ‚Schalk‘ aus schwarzem Glanzleinwand, und an einem Feste, gewöhnlich am Ostertage, zeigt sich der Biggel zum ersten Mal ganz neu gekleidet im Jungfrauenstuhl der Kirche.“

Erster Hahn

Zurück ins Jahr 2022, es ist kurz nach 2 Uhr: Der Schlepper fährt an und zwei Buben, die auf der Ladefläche stehen, schippen Sägemehl mit einer Schaufel vom Fahrzeug auf die Straße. Kaum sind hundert Meter zurückgelegt, hält der Schlepper – das Haus des ersten Mädchens ist erreicht. Fleißige Hände füllen eine blaue Regentonne mit Sägemehl, die zum Hauseingang getragen und deren Inhalt dort verstreut wird. Unterdessen rücken Valentin, Jonas und David vom 2004er-Jahrgang mit einer Leiter an und befestigen sie an einem Balkon. Es klappert, zwei Buben steigen die Leiter hoch, holen sie vom Balkon aus ein und stellen sie dort an die Wand. Valentin kraxelt hoch und hängt die Kiste, die mit einer Schnur versehen ist, am Dachbalken auf. Rufe wie „Bravo“ oder „Jawohl“ ertönen. Flugs sitzen oder stehen dann alle jungen Menschen wieder im Schlepper oder Mähtrak, und die Karawane setzt sich in Bewegung.

Der Schlepper mit dem Sägemehl. <span class="copyright">Hartinger </span>
Der Schlepper mit dem Sägemehl. Hartinger

Nicht nur in Schoppernau, auch im Nachbardorf Au sind in der Osternacht die 18-jährigen Burschen unterwegs. Sie streuen allerdings nur Sägemehl von den Häusern ihrer Jahrgängerinnen zu den zwei Kirchen des Ortes, Hähne werden nicht verteilt. Auch schon wurde es im Dorf der Barockbaumeister so gehandhabt, dass jeweils ein Hahn bei den zwei Kirchen aufgehängt worden ist. Aus Au erfahren wir von der gebürtigen Auer Schriftstellerin Natalie Beer (1903 – 1987) in ihrem Buch „Als noch die Sonne schien“ Folgendes über den Osterbrauch, als sie ein Kind war: Die 18-jährigen Burschen (…) „sammelten so viele Eierschalen, als sie überhaupt erhaschen konnten, wieder andere sorgten für ausgeblasene Eier, die sie in ein großes, aus Heu gerundetes Nest legten. Auf einem vor dem Haus oder an der Straße ganz in der Nähe stehenden Baum befestigten sie (…) das Nest (…) und daneben den kunstvoll aus Holz und später aus Karton geschnittenen und bunt bemalten Hahn, der jedem Vorbeigehenden, besonders aber dem aus dem Haus tretenden ‚Biggel‘, (…) auffallen musste. Den Weg vom Haus bis zur Kirche bestreuten sie mit zerbrochenen Eierschalen, zum Zeichen, dass das Küken endlich ausgeschlüpft sei (…).“

Auf dem rechten Weg bleiben

Wieso die Eierschalen durch Sägemehl ersetzt worden sind, ist ungewiss. Ursprüngliche solle das Bestreuens der Straße mit Sägemehl bedeutet haben, dass die jungen Frauen auf dem rechten Weg bleiben mögen. In jüngerer Vergangenheit gab es wegen des Sägemehls immer wieder Ärger: Manche Jahrgänge streuten so viel, dass die Bewohner der Häuser am Ostersonntag erst mal eine Weile schaufeln mussten, bis sie zur Haustüre hinauskamen. Um die Kirche herum lag manchmal so viel Sägemehl, dass es mit den Kirchenbesuchern unweigerlich auch in das Gotteshaus gelangte. Zudem übertrieben es manche Burschen und beschädigten auf ihrer Tour Fensterläden und dergleichen. Anfang der 1990er-Jahre trieben es die Buben besonders bunt, sodass es 1995 verboten wurde, das Brauchtum in Schoppernau auszuüben. 1996 setzten sich die Burschen des Jahrgangs 1978 über das Verbot hinweg und hängten, ohne Sägemehl zu streuen, die Hähne wieder auf – sehr zur Freude ihrer Jahrgängerinnen. Noch heute freuen sich die meisten Mädchen über den Brauch.

Diese Kiste mit der Aufschrift oben und dem Hahn drinnen finden die 18-jährigen Mädchen am Ostersonntag am Dach ihres Hauses. <span class="copyright">Hartinger</span>
Diese Kiste mit der Aufschrift oben und dem Hahn drinnen finden die 18-jährigen Mädchen am Ostersonntag am Dach ihres Hauses. Hartinger

Die Buben des Jahrgangs 2004 halten sich beim Sägemehl zurück und streuen nur eine kleine Spur. Der Tross hat mittlerweile das Gasthaus Gämsle, die zweite Station, erreicht. Hier werden sie freundlich von der Mutter der 18-jährigen Amrei Franziska, Isabella Felder, empfangen. Die gebürtige Schoppernauerin weiß, wie ihre Tochter sich fühlt, hat sie doch als 18-Jährige selbst einen „Giggolar“ bekommen. Beim „Gämsle“ ist der Hahn schnell aufgehängt. Die Häuser der übrigen sechs Mädchen sind dann ebenfalls rasch angefahren und die Hähne unter dem Dach versorgt. Circa 1,5 Stunden, nachdem die Buben angefangen haben, haben sie ihren Auftrag erfüllt. Wie lange sie danach noch gefeiert haben, wurde nicht bekannt gegeben. Nur so viel zu der Nacht und dem Brauchtum allgemein: „As hat jedar sina Spaß kea“, war am Ostermontag von Jonas zu erfahren.

Hähne vom Nachbardorf aufgehängt

Auch in der Nachkriegszeit wurden Hähne aufgehängt, doch war es in den 1950er-Jahren in Schoppernau so, dass sie aus dem Nachbardorf Au gestohlen – oder man könnte auch netter sagen – ausgeliehen wurden. Denn die Mädchen brachten sie nach Ostern zu ihren Bauern zurück. Als die Mädchen dann eigene Hähne bekamen, hat im Laufe der Jahre so manche der betreffenden Familien den Brauch als Anlass genommen, Hühner anzuschaffen. Einige junge Frauen wiederum verschenkten das Tier an Hühnerbesitzer, und – auch das kam natürlich vor – der eine oder andere Hahn landete bald nach Ostern auf dem Teller.

Fast jeder Schoppernauer und jede Schoppernauerin kann zu diesem Brauch eine Geschichte erzählen. Und auch wenn er manchen nicht sehr gefällt bzw. er zwischendurch verboten war, hat er sich erhalten. Selbst die Pandemie hat daran nichts geändert. 2020 fiel er zwar komplett aus, doch 2021 streuten die Buben der Jahrgänge 2002 und 2003 gemeinsam Sägemehl und legten ihren Jahrgängerinnen einen Schokoladehasen vor die Haustüre.