„Mädchen und junge Frauen fühlen sich nicht ernst genommen“

Philipp Steurer
In den österreichischen Mädchenberatungsstellen sind die Anfragen massiv gestiegen. Angelika Atzinger, Geschäftsführerin des Vereins Amazone in Bregenz, über die hiesige Situation.
Am Dienstag haben die österreichischen Mädchenberatungsstellen Alarm geschlagen: Die Anfragen seien massiv gestiegen, die Problemlagen komplexer. Wie schaut es in Vorarlberg aus?
Angelika Atzinger: Dass die Anfragen steigen, ist eine Entwicklung, die wir schon seit ein paar Jahren beobachten. Wir haben von 2022 auf 2023 in der Beratung einen Anstieg von 30 Prozent gehabt und jetzt im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum ersten Quartal 2023 noch einmal eine Zunahme um fast 40 Prozent.
Inwiefern werden die Problemlagen komplexer?
Atzinger: Die Mädchen und jungen Frauen – wir beraten 10- bis 25-Jährige – kommen mit sehr verwobenen Themen. Es ist nicht nur mehr ein Problem, sondern im Hintergrund oft auch viel Belastung. Wir brauchen auch mehr Zeit, um eine Klientin zu begleiten.
Zur Person
Angelika Atzinger
Geboren 1986 in Innsbruck. Studium Politikwissenschaft und Translationswissenschaft. Tätigkeit in einer Bildungs- und Beratungseinrichtung für Frauen und Mädchen mit Migrations-/Fluchterfahrung in Innsbruck. Seit 2018 Geschäftsführung im Verein Amazone in Bregenz, der sich seit 1998 für die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit einsetzt.
Wie erklären Sie sich diese Steigerungen?
Atzinger: Mädchen und junge Frauen sind in den letzten Jahren insgesamt mehr belastet.
Warum?
Atzinger: Einerseits sind es pandemiebedingte Nachwirkungen, die wir immer noch spüren, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen, Krieg, Konflikte, Ukraine, Nahost. Das beschäftigt sie, das macht Angst und Druck. Aber auch die Klimakrise wirkt auf viele bedrohlich. Da fühlen sich Mädchen und junge Frauen oft nicht so wirkmächtig. Ganz grundsätzlich fühlen sie sich gesellschaftlich nicht gehört und politisch nicht repräsentiert bzw. nicht ernst genommen.

Mit welchen ganz konkreten Problemen werden Sie in der Beratung konfrontiert?
Atzinger: Die Themen physische und psychische Gesundheit haben stark zugenommen. Psychische Belastungen, Stress, Druck in Schule und Arbeit, aber auch selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität haben wir in einem höheren Ausmaß. Substanzgebrauch ist auch zunehmend ein Thema geworden. Was wir früher auch nicht so oft hatten, waren körperliche Beschwerden: Migräne, Schmerzen, Müdigkeit, Nervosität, wo sich psychische Belastung dann schon körperlich zeigt. Das finden wir auch sehr besorgniserregend.
Warum fühlen sich Mädchen und junge Frauen politisch nicht ernst genommen?
Atzinger: Themen, die Mädchen und junge Frauen beschäftigen, werden gesellschaftlich insgesamt nicht so gehört oder ernst genommen. Dazu kommt, dass wenn über Jugendliche geredet wird, geschlechtsspezifische Aspekte nicht genug in den Blick genommen werden. Frauenthemen, Frauenanliegen werden eh immer gesondert besprochen. Bei weiblichen Jugendlichen verstärkt sich das dann noch. Junge Leute sind schon ein Sonderthema, und da fällt oft unter den Tisch, dass Mädchen mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind.

Wie sehr unterscheiden sich die Probleme weiblicher Jugendlicher von denen männlicher?
Atzinger: Da gibt es natürlich Überschneidungen, Jugendliche sind allgemein derzeit sehr belastet, aber in vielen Studien zeigt sich, dass das bei Mädchen noch eklatanter ist. Ein Grund dafür sind sicher geschlechterstereotype Rollenbilder, die viel Druck machen.
Inwiefern?
Atzinger: Zum Beispiel das Aussehen, wie sie auszusehen haben, welchen Ansprüchen ihr Körper zu entsprechen hat. Da sind die Anforderungen an Mädchen und junge Frauen schon sehr hoch.
Haben sich die Probleme der Mädchen und jungen Frauen in den letzten Jahren geändert?
Atzinger: In unserer Beratungsstelle ist wie gesagt diese psychische Belastung mehr geworden. Auch Essstörungen haben extrem zugenommen.
Was machen Sie in der Beratung?
Atzinger: Wir haben einerseits ein niederschwelliges Angebot. Wenn Jugendliche zu uns kommen, ist immer eine Mitarbeiterin da, die für Gespräche zur Verfügung steht. Das kann einmalig sein. Wir haben aber auch ein längerfristiges, prozesshaftes Beratungsangebot mit Terminvereinbarung. Eines ist uns aber ganz wichtig.
Was?
Atzinger: Dass die Klientin selbst bestimmt. Sie kann sagen, wie oft sie kommt und wie lang. Es ist auch möglich, eine Bezugsperson miteinzubeziehen. Bei Krisen oder wenn es um Gewaltbetroffenheit geht, vermitteln wir natürlich auch an andere Beratungsstellen weiter.

Ein psychotherapeutisches Angebot haben Sie nicht?
Atzinger: Nein, da vermitteln wir weiter. Da sind andere Systeme allerdings überlastet und daher die Wartezeiten sehr lang. Da haben wir in den letzten Jahren versucht, in der Zwischenzeit aufzufangen und zu schauen, wie man die Klientin stabilisieren kann.
Nachdem die Anfragen so gestiegen sind: Reichen da Ihre Ressourcen?
Atzinger: Wir haben zum Glück heuer mehr Ressourcen, weil die Mädchen- und Frauenberatungsstellen finanziell aufgestockt worden sind. Wir könnten aber auch noch mehr brauchen. Das letzte Jahr war für unsere Mitarbeiterinnen schon sehr fordernd und einfach auch sehr viel.
Wie wird sich das in Zukunft weiterentwickeln?
Atzinger: Wir werden die genannten Themen auch in den nächsten Jahren noch massiv spüren. Mit der Pressekonferenz am Dienstag wollten wir noch mal verstärkt darauf hinweisen. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass Mädchen und junge Frauen spezifische Problemlagen und Bedürfnislagen haben. Wenn es da grundsätzlich mehr Bewusstsein dafür gibt, wäre ein wichtiger Schritt getan.
Werden die Anfragen zahlenmäßig weiter steigen?
Atzinger: Das ist schwierig zu prognostizieren. Derzeit steigen sie noch. Also ja, vermutlich auch noch in der Zukunft.
Die Amazone zieht um
Die Verantwortlichen des Vereins Amazone sind schon seit Längerem auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten. Der Wunsch nach Barrierefreiheit, aber auch kurzfristige Mietverträge am derzeitigen Standort in der Kirchstraße sind laut Geschäftsführerin Angelika Atzinger die Gründe dafür. Mittlerweile ist man fündig geworden, und zwar in der Bahnhofstraße 31, dem sogenannten Welzenbacherhaus, das der Vorarlberger Landesversicherung gehört. Eigentlich hätte der Umzug schon stattfinden sollen, erzählt Atzinger. Demnächst soll es aber so weit sein. Sie geht davon aus, bis Mitte Juli am neuen Standort zu sein. Der Verein hat dort im Erdgeschoss und in Teilen des ersten Stocks seine neuen Räumlichkeiten.