Kern: „Bin sicher kein Role Model für Eitelkeit“

Der frühere Bundeskanzler und SPÖ-Chef Christian Kern (58) über parteiinterne Querelen, seinen einst überraschenden Rückzug aus der Politik und warum er glaubt, dass die SPÖ in Vorarlberg deutlich zulegen wird.
Was führt Sie nach Vorarlberg, Herr Kern?
Christian Kern: Mein Freund Mario Leiter hat mich eingeladen, mit ihm eine Tour durch die Vorarlberger Wirtschaft zu machen und hat mir da eine besondere Freude gemacht, weil ich immer schon zu Alpla wollte. Damit haben wir heute begonnen..
Warum wollten Sie unbedingt zu Alpla?
Kern: Weil es ein unglaublich dynamisches Unternehmen mit einer faszinierenden Geschichte ist. Ich finde das beeindruckend und frage mich, wie sie das geschafft haben.
Wie sind Sie denn ins Land gekommen? Der Osten ist ja gerade ein Hochwasser-Katastrophengebiet.
Kern: Ja, in der Tat. Sie wissen ja, ich bin bekanntlich ein großer Bahnfan und ziehe Bahnfahrten immer vor. Aber nachdem die Bahnstrecke gesperrt war, bin ich geflogen.

Das heißt, der Bahnmanager Kern fährt normalerweise immer mit dem Zug?
Kern: Wenn es die Zeit erlaubt, ist das immer meine bevorzugte Reisemittel, alles andere finde ich mühsam.
Krisenfälle können, wenn sie gut gemeistert werden, das Vertrauen in die Regierung stärken. In der Politikwissenschaft nennt man das den „Rally around the flag“-Effekt. Glauben Sie, dass ÖVP und Grüne von den aktuellen Ereignissen profitieren und Punkte für die bevorstehende Nationalratswahl machen?
Kern: Wenn so ein Ereignis passiert, geht es darum, den Menschen zu helfen. Da haben sich alle politischen Parteien einzufügen. Im Übrigen zeigt sich hier, was in unserem Land wirklich funktioniert. Wenn 20.000 freiwillige Feuerwehrkräfte anpacken, zeigt das, dass wir vieles schaffen können, wenn wir an uns selber glauben. Welcher Partei das am Ende nützt, ist schwer zu sagen.
Besuche in Katastrophengebieten sind heikel. Zeigen sich politische Spitzenrepräsentanten nicht, wird ihnen mangelndes Interesse vorgeworfen. Zeigen sie sich zu medienwirksam, wird ihnen unterstellt, PR-Aktionen zu machen. Ein Beispiel: 1997 ließ sich der SPÖ-Bundeskanzler Viktor Klima mit Gummistiefeln fotografieren, nachdem er mit einem Hubschrauber eingeflogen worden war. Der Schuss ging nach hinten los.
Kern: Wie beim armen Armin Laschet (Anm.: ehemaliger Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der CDU)

Genau. Er hat beim Besuch im Hochwassergebiet während einer Ansprache von Bundespräsident Steinmeier im Hintergrund gelacht.
Kern: Das hat ihm die Wahl gekostet
Jetzt aber zur SPÖ: Was halten Sie vom aktuellen Wahlprogramm der Partei?
Kern: Also ich habe es nicht im Detail studiert. Insofern habe ich jetzt keine ausgeprägte Meinung dazu.
Sie wollen sich also nicht dazu äußern?
Kern: Es sind sicher zweifelsfrei viele sinnvolle Forderungen drinnen. Aber wie gesagt: Ich fühle mich bei der Gesamtbewertung außerstande, etwas zu sagen.
Doris Bures äußerte in einem Brief an das SPÖ-Präsidium Zweifel am Wahlprogramm und schrieb vom „Verdacht der Unernsthaftigkeit“. Wie sehen Sie das?
Kern: Ohne ins Detail gehen zu wollen; Die SPÖ ist eine Regierungspartei. Sie hat eine besondere Verantwortung für die Geschichte dieses Landes in der Vergangenheit gehabt und wird sie hoffentlich auch in Zukunft haben. Und da muss man zu Recht Ernsthaftigkeit erwarten können. Insofern finde ich die Diskussion, wenn da jemand Sorgen hat, dass das nicht so ist, angemessen. Weil das rührt an der Substanz der SPÖ. Und so wie es ausschaut, hat man sich ja sinnvoll einigen können.

Innerparteiliche Querschüsse gab es auch als Sie Kanzler waren.
Kern: Es hat vielleicht zwischendurch anders ausgesehen, aber die SPÖ war immer schon eine diskussionsfreudige Partei. Die Kunst besteht halt darin, über verschiedene Strömungen, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Das ist in einer Wahlkampagne entscheidend. Ich denke, dass das ganz passabel funktioniert hat. Dem Vorsitzenden geht das natürlich alles zu weit, das ist keine Frage.
Ihnen wurde vorgeworfen, dass Sie die Partei mit Ihrem plötzlichen Abgang beschädigt und geschwächt haben. Wie sehen Sie Ihre Verantwortung rückblickend?
Kern: Rückblickend hätte ich sicher das eine oder andere anders lösen können. Aber man muss das relativieren: Wenn das Schicksal der SPÖ sieben Jahre nach dem Rücktritt einer einzelnen Person immer noch davon abhängt, muss man sich Fragen stellen. Die Sozialdemokratie war immer eine politische Bewegung, die von vielen Menschen geprägt und beeinflusst wurde. Daher sollte man die Rolle einzelner Personen nicht überbewerten. Das sage ich ganz bewusst als ehemaliger Vorsitzender, der weiß, wovon er spricht.
Was hätten Sie aus heutiger Sicht anders gemacht?
Kern: Zweifellos hielt ich es damals wegen meiner privaten Gründe und der anhaltenden Diskussionen für die richtige Entscheidung, aus der Politik auszusteigen. Im Nachhinein habe ich gemerkt, dass viele Freunde enttäuscht waren. Das bedauere ich sehr.
Kritiker, auch parteiinterne, warfen Ihnen Eitelkeit vor. Waren Sie sich zu gut für die Rolle des Oppositionsführers?
Kern: Das ist ein völliger Blödsinn. Als öffentliche Person ist man immer eine Projektionsfläche, und die Leute interpretieren ständig etwas hinein – sowohl positiv als auch negativ. Das hat oft nichts mit der Realität zu tun. Ich denke, ich bin genauso eitel wie die meisten anderen, aber definitiv kein Role Model für Eitelkeit, wenn ich mich in der Politik umsehe.
Sie sagten bei ihrem Abgang, dass sie sich künftig als Privatperson einbringen, aber „sicher nicht vom „Muppet-Balkon“. Ganz stimmt das aber nicht, weil Sie haben sich seitdem in zahlreichen Interviews zu Wort gemeldet.
Kern: Stimmt.

Was wünschen Sie sich für ein Ergebnis bei der Nationalrats- und Landtagswahl?
Kern: In Vorarlberg haben wir eine schwierige Zeit hinter uns. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt ein Licht am Ende des Tunnels gibt und ein anderer Geist herrscht. Hier sitzen zwei Exponenten, die mit beiden Beinen im Leben stehen und den sozialen Zusammenhalt, der uns ausmacht, nicht vergessen haben (Anm.: Kern zeigt auf Mario Leiter und Martin Staudinger, die beim Gespräch dabei waren). Daher bin ich optimistisch, dass wir in Vorarlberg deutlich zulegen können. Was die Bundespartei betrifft, ist das Ziel, als Erster ins Ziel zu gehen. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Sollten die Umfragen stimmen, müssen die nächsten zehn Tage intensiv genutzt werden.
In den Umfragen ist die FPÖ vorne.
Kern: Ja. Definitiv kein Wunschergebnis von mir.
Sie waren vor ihrer Zeit in der Politik Vorstandsvorsitzender der ÖBB und sind seit 2022 wieder im Bahngeschäft. Warum stockt der europaweite Ausbau der Bahn?
Kern: Ohne mit dem Finger auf Nachbarn zeigen zu wollen, hat Europas Bahnsystem derzeit ein großes Problem, und das ist die Deutsche Bahn. Die Infrastruktur dort wurde so stark vernachlässigt, dass das in den nächsten fünf bis sieben Jahren erheblichen Schaden verursachen wird. Dadurch werden die Ziele, wie etwa mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen, in Europa nicht erreicht werden. In Österreich können wir hingegen stolz darauf sein, dass wir weitsichtiger und klüger in unsere Bahninfrastruktur investiert haben, und das war auch Teil eines breiten politischen Konsenses. Fairerweise muss man sagen, dass das nicht nur ein Verdienst der SPÖ ist. Zwischenzeitlich gab es auch einen FPÖ-Verkehrsminister, eine grüne Verkehrsministerin und die ÖVP, die ihre anfänglich schwierige Haltung zur Bahn korrigiert hat. Es besteht also ein nationaler Konsens, dass wir diese Investitionen brauchen, und das ist eine große Stärke der österreichischen Bahn.

Wie lange wird es dauern, bis man von einem europäischen Bahnnetz sprechen kann, das seinen Namen verdient?
Kern: Wir werden sicher noch viele Jahre damit zu tun haben. Der Trend zeigt, dass die Bahn das Transportmittel der Zukunft ist, aber vor den 2030er Jahren werden die großen Probleme nicht gelöst sein. Das gilt besonders, wenn die beiden großen Länder, Deutschland und Frankreich, ihre Hausaufgaben nicht machen. Nehmen sie den Brenner Basistunnel, ein schwieriges Projekt. Ursprünglich sollte er 2012 fertig sein, jetzt wird prognostiziert, dass es eher 2030 oder 2032 sein wird. Österreich und Italien haben das größte Tunnelbauwerk Europas gebaut, das von Finnland bis Sizilien von Bedeutung ist. Aber das Problem liegt dazwischen: Die Deutschen haben die Zubringerstrecke noch nicht gebaut und bis heute keinen konkreten Plan. Wenn Sie mich fragen, wie lange das dauern wird, sage ich: Das hängt stark von der Entschlossenheit der Politik ab und davon, ob man den Mut hat, im Interesse des europäischen Wohlstands zu handeln.
In einem Gastbeitrag für die „Bild“ haben Sie die Finanzkrise der deutschen Bundesregierung und die möglichen Auswirkungen auf Europa mit einer Bahn-Analogie kommentiert: „Deutschland ist die Lokomotive, die nicht ausfallen darf.” Sie warnten darin vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Ähnliche Töne hört man auch hierzulande. Unternehmen stöhnen unter den Energiepreisen und hohen Lohnstückkosten. Welche Maßnahmen sind nötig, damit die heimischen Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben?
Kern: Ich denke, es sind mehrere Faktoren entscheidend, aber ein großes Problem ist die Arbeitsproduktivität, und das werden wir nur durch Innovationen lösen können, indem wir gezielt versuchen, die Produktivität zu steigern. Das erfordert Investitionen, daran führt kein Weg vorbei. Wir brauchen also wieder Anreize, um mehr Investitionen in Österreich anzukurbeln. Der zweite wichtige Punkt in dieser Krise ist der Binnenkonsum. Zwar haben die Menschen in Österreich durch Lohnerhöhungen etwas mehr Geld, aber sie leiden immer noch stark unter der Inflation. Hier müssen wir darüber sprechen, wie wir zukünftig mit den Energiemärkten umgehen und auch in grundlegenden Bereichen wie Wohnen mit den Preissteigerungen, damit das Leben für die Menschen wieder bezahlbar wird und sie in ihren Lebensstandard investieren können. Das dritte Standbein der Wirtschaft sind die Exporte. Hier hängen wir stark von globalen Entwicklungen ab, aber Österreich hat in den letzten fünf Jahren innerhalb der EU das schlechteste Wirtschaftswachstum, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Das liegt an der verfehlten Politik in der Inflationsbekämpfung. Wir haben 2022 nicht früh genug eingegriffen, um die Energiepreise zu begrenzen, was zu absurden Extragewinnen für die Energiekonzerne geführt hat – nicht nur in Österreich, sondern weltweit. Die Wirtschaft und die Haushalte haben dafür den Preis bezahlt, und das wird uns auch in Zukunft weiter belasten. Natürlich hat die Gewerkschaft starke Lohnerhöhungen durchgesetzt, was auch ihre Aufgabe ist, aber das hat in Summe unsere Wettbewerbsfähigkeit verringert. Deshalb sollten wir die Klagen der Wirtschaft ernst nehmen.
Jetzt gibt es in Vorarlberg nicht nur die großen Exportkaiser. Über die Hälfte der Wirtschaftstreibenden sind Ein-Personen-Unternehmen.
Kern: Vor allem die mittelständische und kleinteilige Struktur unserer Wirtschaft muss berücksichtigt werden. Unternehmen wie Alpla sind Ausnahmen – sie sind global tätig, in Asien und Amerika, und können sich auf vielen Märkten bewegen. Aber Unternehmen, die hier produzieren und ihren Absatzmarkt in der Region oder in Österreich und Zentraleuropa haben, sind stark von den lokalen Bedingungen abhängig. Diese Unternehmen trifft die aktuelle Lage hart, und sie brauchen Lösungen. In Österreich gibt es fast 800.000 KMUs und EPUs, und diese sind durch die Inflation an die Grenze des Machbaren gekommen. Das sind im Grunde Verarmungsprogramme für einen großen Teil der Mittelschicht.

Welche Verbesserungen wären notwendig?
Kern: Was ich in der Politik gelernt habe, ist, dass wir oft hitzig über einzelne Vorschläge diskutieren. Es gibt immer ein Für und Wider, und alle springen darauf an. Doch die meisten dieser Ideen sind weder dazu gedacht, wirklich umgesetzt zu werden, noch erinnern sich die Leute nach der Wahl daran. Die Wahrheit ist: In der Wirtschaft gibt es keine Wunderlösung. Man kann nicht mit einem Fingerschnippen alles ändern. Auch mit einer einzelnen Maßnahme lässt sich nicht alles regeln. Was wir brauchen, ist ein Plan, eine Vision. Was wollen wir als Land erreichen? Wie stärken wir unsere Ziele? Ein zentraler Punkt ist die Notwendigkeit eines neuen Steuersystems, das Leistung wieder belohnt. Das betrifft sowohl KMUs und EPUs als auch die lohnabhängigen Beschäftigten. Diese Reform ist längst überfällig. Statt uns in Diskussionen zu verlieren, ob es um das Dieselprivileg, die Vermögenssteuer oder die Erbschaftssteuer geht, brauchen wir ein Gesamtkonzept. Wir müssen entscheiden, was wir finanzieren wollen, wie wir effizienter werden und wie wir dann die Steuerleistung anpassen. Ein weiteres Problem, das wir nicht übersehen dürfen, ist das Budget. Es ist mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem es kurz davor steht, völlig aus dem Ruder zu laufen. Wir können nicht einfach immer mehr Ausgaben oben draufsetzen. Die Steuerzahler sind verständlicherweise unzufrieden, weil sie sehen, dass wir eines der teuersten Bildungs- und Gesundheitssysteme haben, aber die Leistungen entsprechen nicht dem, was sie dafür zahlen. Die entscheidende Frage wird sein, wie wir mit den vorhandenen Mitteln bessere Leistungen erbringen können.