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Was tun mit psychisch kranken und gefährlichen Straftätern?

15.11.2024 • 20:00 Uhr
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Laut Gerichtsgutachter Prof. Dr. Reinhard Haller nimmt die ­Begutachtung zur Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeit von Straftätern zu. Stiplovsek; Hartinger

Gerichtspsychiater Prof. Dr. Reinhard Haller begrüßt das ­Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz, erklärt warum und lobt die ­Arbeit der ­scheidenden ­Justizministerin Alma Zadic in dieser Gesetzesmaterie.

Von Kurt Bereuter

Auch bei Strafverfahren in Vorarlberg ist Dr. Reinhard Haller immer wieder als Gutachter gefragt, um die Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeit von Straftätern zu beurteilen. Zum Beispiel bei jenem Mann, der mit einer Machete einen Taxifahrer schwer verletzte. In der forensischen Psychiatrie geht es um Begutachtung und Unterbringung von psychisch kranken Straftätern, also um die Frage der Schuldfähigkeit und der möglichen freiheitsentziehenden Maßnahmen. Aber auch um die fortwährende Unterbringung von Menschen mit einer schweren und gefährlichen Persönlichkeitsstörung.

Menschenrechtskonforme Terminologie

Seit dem Jahr 2023 gibt es das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz, das unter Justizministerin Alma Zadic erarbeitet und beschlossen wurde. Ziel ist die menschenrechtskonforme Modernisierung des Strafrechtes und der Unterbringung von Straftätern, die aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung oder einer schweren Persönlichkeitsstörung nicht zurechnungsfähig und damit auch nicht schuldfähig waren oder sind, oder von denen weiterhin eine erhebliche Gefahr für die Gesellschaft ausgeht. Wenn eine fortdauernde Gefährlichkeit für die Gesellschaft anzunehmen ist, wurden sie früher in einer „Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher“ untergebracht, die jetzt „forensisch-therapeutisches Zentrum“ heißt. Und hieß es vorher „geistige oder seelische Abartigkeit höheren Grades“, heißt es jetzt „schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung“. Allein diese neue Terminologie begrüßt Prof. Haller, weil sie weniger diskriminierend sei.

Gesetzesänderung gegen überfüllte Anstalten

Als zweites Ziel dieses Gesetztes wird die ressourcenorientierte Modernisierung des Maßnahmenrechtes genannt. Seit mehreren Jahren, vor allem seit 2020, hätten sich die Einweisungen in die bisherigen Anstalten vervielfacht und seien damit völlig überfüllt gewesen, erklärt Dr. Haller. Dabei seien etwa die Hälfte der Eingewiesenen nicht gefährlich gewesen, weshalb er diese Gesetzesänderungen begrüße. Die Maßnahme der Sicherungsverwahrung müsse als letztes Mittel für eine kleine Gruppe gefährlicher Straftäter vorgesehen sein. Es sei auch durch die vermehrte Entlassung in den letzten Monaten nicht zu einer negativen Auswirkung gekommen, wenngleich der Zeitraum noch sehr kurz sei. Erfahrungen aus anderen Ländern seien ähnlich und würden diese Gesetzesänderungen positiv bestätigen.

Zunahme von Begutachtungen

Tatsächlich nehme die Begutachtung zur Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeit von Straftätern zu, sagt Dr. Haller. Aber es nähmen überhaupt Straftaten zu und damit auch die Gutachten. Es seien immer zwischen fünf und sieben Prozent der Fälle, in denen ein psychiatrisches Gutachten angefordert werde. Dass die Zuwanderung eine Rolle spielt, will er nicht verneinen, aber es erkläre sich auch damit, dass Migranten zu einem großen Teil in die Altersgruppe der 18- bis 30-jährigen Männer falle, und diese sei nun mal die Hauptgruppe der Straftäter, auch bei Einheimischen. Aber die Zunahme sei nicht dramatisch. Da spiele auch die mediale Berichterstattung eine Rolle, weil es oft interessante Fälle seien. Tatsächlich wird dieses Thema auch in der Öffentlichkeit immer wieder kontrovers diskutiert. Während die Öffentlichkeit sich eher daran stößt, dass Straftäter zu schnell wieder freikommen, sehen Angehörige den Aufenthalt ihrer Familienmitglieder in einer „Anstalt“ oft für übertrieben lang an, zum Teil länger als es der Strafrahmen für die Tat vorgäbe, weil durch gutachterliche Feststellungen, die in regelmäßigen Abständen erfolgen müssen, weiterhin eine Gefahr vom Delinquenten ausgehen könne.

Angehörige von Betroffenen

Als Gutachter befrage er Angehörige über einen Delinquenten, aber er sei nicht ihr Therapeut. Und zudem gebe es immer wieder Menschen ohne Angehörige. Im Falle von Angehörigen gebe es zwei Gruppen. Die einen seien froh, wenn ihr Angehöriger in eine professionelle Unterbringung verbracht werde, weil sie hilflos und überfordert seien. Aber es gebe auch jene, die Druck machten, dass ihr Angehöriger nicht gefährlich sei und auf eine Entlassung drängten. Denn die in therapeutisch-forensischen Zentren Untergebrachten müssen jährlich auf ihre Gefährlichkeit hin beurteilt werden. Nur ein Fall sei ihm untergekommen, wo eine Mutter Druck auf ihn ausüben wollte. Auch sei er lediglich einmal von einem Betroffenen bedroht ­worden.

Keine hundertprozentige Prognose möglich

Abschließend stellt Prof. Haller noch einmal klar, dass er diese Gutachtertätigkeit sehr gerne macht, weil es eine sehr interessante Tätigkeit sei, trotz einer möglichen emotionalen Belastung. Aber Nachwuchs wäre schön und gut, dann hätte er mit seinen 73 Jahren nicht mehr so viele Fälle. Angst sei unbegründet, wenn professionell gearbeitet werde und dann sei auch im Falle eines der Prognose widersprechenden Verhaltens eines Begutachteten keine Haftung gegeben. Denn letztlich gebe es keine 100 Prozent sichere Prognose, aber es müsse abgewogen werden, zwischen einer unbegründeten Unterbringung mit Freiheitsentziehung und einem legitimen Schutz der ­Gesellschaft.

Angeklagter Soner Ö. – Verteidiger Stefan Harg und Wilfried Weh – Opferanwalt Stefan Denifl – Richter Martin Mitteregger samt Beisitzer Reinhard haller psychiater
Prof. Dr. Reinhard Haller hat über 40 Jahre Erfahrung als Sachverständigengutachter. HARTINGER

Die Letztentscheidung liegt immer beim Gericht

Gerichte verlassen sich in der Regel auf die psychiatrischen Gutachten. Nur sehr selten würde einem Gutachter nicht gefolgt. Aber es könne auch ein Gutachter abgelehnt oder ein zweites Gutachten verlangt werden. Das sei auch gut so, ist Prof. Haller überzeugt, denn wir haben keine Sachverständigenjustiz, die Letztentscheidung müsse immer das Gericht treffen. In seinen mehr als 40 Jahren Sachverständigengutachter sei es eine Handvoll Betroffener gewesen, die eine Untersuchung abgelehnt hätten. Die meisten seien redebedürftig und dabei sei es wichtig, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und nicht aus einem Expertenstatus heraus. Für ihn sei die Gutachtertätigkeit sehr spannend, er mache sie auch gerne, sei es doch die „Psychologie pur“, bei der es um die ganz alltäglichen Themen wie Eifersucht, Neid, Gier, Kränkung, Hass usw. gehe. Aber es würden Gutachter fehlen und es kommen auch nur wenige nach. Wenn lediglich zehn Prozent jener, die diese zweijährige berufsbegleitende Ausbildung zu eigenen Kosten auf sich nehmen, dann auch gutachterlich tätig werden, kann er das nicht verstehen. Zumal sich unter der Noch-Justizministerin auch die Bezahlung stark verbessert habe und heute gut sei. Mangels Psychiatern werde diese Gutachtertätigkeit immer mehr von klinischen Psychologen übernommen, von denen es mehr gebe und die auch besser bezahlt seien. Aber auch Gutachterkommissionen sollten mehr in Anspruch genommen werden. Bei diesen werden vom Gericht auch Gefängnispersonal, Sozialarbeiter aus Wohngruppen oder Kriminalisten einbezogen. Das sei zu begrüßen und erlaube auch einen Austausch zwischen gutachterlich tätigen Personen, der hilfreich und sinnvoll sei.