„Die Leute glauben ja, man ist dumm“

Thomas Walter (52) hat in der Schule nie richtig lesen und schreiben gelernt. Jetzt bereitet er sich auf die Matura vor.
Vor einigen Wochen wurde eine OECD-Studie veröffentlicht, laut der 29 Prozent der Erwachsenen in Österreich Probleme mit einfachen Texten haben. Dabei handelt es sich nicht nur um Menschen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist. Betroffen sind auch Menschen mit Deutsch als Muttersprache. Einer von ihnen ist der 52 Jahre alte, in Frastanz lebende Thomas Walter.
Thomas Walter wurde am 2. Jänner 1973 als zweites Kind seiner Eltern in Geislingen an der Steige in Baden-Württemberg geboren. Sein mittlerweile verstorbener Bruder war zwei Jahre älter. Der Altersunterschied zwischen den Eltern betrug 16 Jahre, erzählt er. Und dann holt er weit aus in seiner Familiengeschichte, um die Umstände seiner Kindheit zu erklären und damit auch, warum das mit dem Lesen und Schreiben lange nicht so wirklich klappte.
Kriegserfahrungen
Sein Großvater väterlicherseits sei an der Schlacht um Verdun im Ersten Weltkrieg beteiligt gewesen, berichtet der 52-Jährige, der Vater während des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen. Emotionen seien in dieser Familie kaum vorhanden gewesen. Der Urgroßvater mütterlicherseits war hingegen ein Russlandheimkehrer, Walters uneheliche Mutter ist bei der Großmutter aufgewachsen.
Seine Mutter sei mit der Familie, der Erziehung der beiden Buben überfordert gewesen, stellt Walter heute fest. Die Eltern trennten sich dann, als er zehn Jahre alt war. „Zu meiner Mutter hatte ich erst mit 18 wieder Kontakt.“ Die beiden Buben wuchsen nach der Trennung beim Vater auf. Dieser hatte teilweise vier Jobs, um die Familie zu ernähren. „Für ihn war die materielle Versorgung wichtig. Das Zwischenmenschliche gab es nicht“, so Walter. Der Vater habe es zwar immer wieder versucht, sei dabei aber immer wieder gescheitert.

Die schulischen Leistungen hätten den Vater nicht wirklich interessiert. „Hausaufgaben habe ich nie gemacht und auch nie gelernt. Irgendwann haben die Lehrer aufgegeben“, erinnert sich Walter. Das habe auch damit zu tun gehabt, dass in der Schule in Ulm, wo er aufgewachsen ist, die Hälfte der Schüler nicht Deutsch sprach und die Lehrer teilweise überfordert waren, vermutet er.
„Wenn ein Brief nach Hause gekommen ist, dass die Versetzung gefährdet sei, dann war das einfach nicht relevant“, erzählt Walter. Die Situation zu Hause sei schwierig gewesen. Kontrolle und Druck, Hausaufgaben zu machen und zu lernen, hätten gefehlt. Auch die Mutter hätte sich vor der Trennung nur phasenweise dafür interessiert. „Man hat es versucht. Sie konnten und kannten es nicht besser“, gibt der 52-Jährige seinen Eltern keine Schuld.
Ungeliebte Lehre
Einen Hauptschulabschluss schaffte Thomas Walter dennoch – wieder ohne zu lernen und ohne Hausaufgaben zu machen, wie er berichtet. Lesen und Schreiben waren allerdings auch nachher ein Problem. Statt der von ihm erträumten Kfz-Mechaniker- und Karosseriebauerlehre musste er auf Wunsch des Vaters etwas Kaufmännisches machen. Er lernte Einzelhandelskaufmann – ein Beruf, in dem er nach der Lehre keinen einzigen Tag mehr gearbeitet hat.
Es folgten verschiedene Jobs. Mit 19 Jahren zog Walter dann nach Kempten, um in der Folge zur Bundeswehr zu gehen. 1996 war er auch im Kosovo. Nach seinem Abschied aus der Bundeswehr 1997 folgten wieder verschiedene Jobs und ab 2004 eine mehrjährige Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit – eine Ausbildung, die es in dieser Form in Österreich nicht gibt. „Da gibt es viele Gesetzestexte. Die habe ich durch Zuhören gelernt“, erzählt er. Für ihn war es nämlich kaum möglich, Texte sinnerfassend zu lesen. „Texte lesen war für mich sehr anstrengend. Ich verstehe sie dann kaum, weil ich mich so aufs Lesen konzentrieren muss“, schildert er sein Problem. Heute habe er beim Lesen nach wie vor die Schwierigkeit, auf der richtigen Zeile zu bleiben.

Nach einigen Jahren als Berufsdetektiv vor allem in Kaufhäusern in Deutschland erhielte er 2011 ein berufliches Angebot aus Vorarlberg. Gemeinsam mit seiner Frau lebt er seither im Land. Zunächst war er bei einer Sicherheitsfirma tätig, dann bei einem Securitydienst und sechs Jahre lang als Bademeister. „Im Kaufhaus habe ich häufig Texte durchsagen müssen. Die habe ich im Vorfeld sehr oft gelesen und einfach auswendig gelernt“, schildert er seine damalige Taktik. Direkt vom Blatt lesen ging nicht. Seit 2019 arbeitet Thomas Walter im Öffentlichen Dienst – und da sind seine Lese- und Schreibprobleme dann sehr offen zutage getreten. „80 Prozent meiner Tätigkeit ist nämlich Büroarbeit“, beschreibt er seinen Alltag.
Der 52-Jährige hat sich in der Folge bei einem Basisbildungslehrgang der Volkshochschule (siehe unten) angemeldet. Dort werde genau auf die individuellen Probleme eingegangen, erzählt er. Gleich drei Kurse hat er absolviert. „Beim letzten war ich dann ein bisschen unterfordert.“ Beim ersten Kurs habe er schon „ein blödes Gefühl“ gehabt, erinnert er sich. „Die Leute glauben, man ist dumm“, waren seine Befürchtungen. Derartiges hatte er vorher öfters in den Sozialen Medien als Reaktion bekommen, wenn er etwas geschrieben hatte, das fehlerhaft war.
Basisbildung
Die Volkshochschulen Vorarlberg bieten kostenlose, geförderte Kurse an, die von Land Vorarlberg, dem Bundesministerium und dem Europäischen Sozialfonds unterstützt werden. Inhalte wie Leseverständnis, Schreibfähigkeiten, alltagsrelevantes Rechnen und Computergrundkenntnisse werden in kleinen Gruppen trainiert.
In den vergangenen zehn Jahren haben 1098 Menschen 141 Basisbildungs- und Alphabetisierungskurse an den Vorarlberger Volkshochschulen besucht.
Unverbindliche, anonyme und vertrauliche Beratung: 0664/3845301 oder basisbildung@vhs-goetzis.at
Ganz fehlerfrei waren seine Berichte, die er bei der Arbeit schreiben muss, auch nach den drei Kursen nicht – und daher hat er sie öfters wieder zurückbekommen. „Lesen und schreiben war um einiges besser als zuvor, aber noch nicht auf dem Level, auf dem ich wollte“, sagt er. Und da hat ihn der Ehrgeiz gepackt. „Ich wollte Deutsch auf Maturaniveau können und Englisch lernen und da habe ich mir gedacht, da kann ich gleich die Matura machen.“
Seit Herbst vergangenen Jahres absolviert der 52-Jährige nun nebenberuflich einen Maturalehrgang an der Volkshochschule. „Ich will nicht mehr, dass man mir fehlerhafte Texte zurückgeben muss“, sagt er. Das Fach Deutsch – vor dem er im Vorfeld am meisten Angst gehabt hatte – sei gar kein großes Problem, erzählt er. Englisch, wo er bei Null gestartet sei, dass er aber für seinen jetzigen Job immer wieder mal brauchen könne, ginge besser als erwartet. Mathematik sei allerdings ein harter Brocken, so seine bisherigen Erfahrungen.

Vereinsarbeit. Freizeit bleibt dem 52-Jährigen derzeit nicht viel. Das Ehepaar hat zwei Hunde aus dem Tierschutz, Bonny und Lucky, und Thomas Walter ist in einem Verein aktiv, der ihm sehr am Herzen liegt: Es ist der Bund Deutscher EinsatzVeteranen e. V., der Veteranen der Bundeswehr betreut und unterstützt.
Weiter reichende Pläne für die Zukunft hat der Wahlvorarlberger derzeit nicht. „Mein Ziel ist die Matura. Ich will meine Rechtschreibung so weit bringen, dass ich fehlerfrei schreiben kann. Was danach kommt, ist offen.“