Was bringt ein Urteil gegen eine 97-Jährige?

Dass spezialpräventiv bei einer 97-jährigen Beitragstäterin nicht mehr viel zu holen sein wird, ist unbestreitbar.
Die primäre Funktion des Rechts ist nicht Gerechtigkeit, auch wenn das gerne behauptet wird. Gerechtigkeit ist ein sehr subjektiver Zustand. Das Recht ordnet gesellschaftliche Verhältnisse, regelt Zuständigkeiten, bestimmt Strafen und Ansprüche. Weil es dabei oft eine Seite enttäuschen muss, kann das Recht nicht immer gerecht sein – auch wenn sich das die deutsche Rechtsordnung ganz besonders wünscht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, verspricht etwa das Grundgesetz. Der Bundespräsident soll laut Amtseid „Gerechtigkeit gegen jedermann üben“. Es steckt sehr viel moralischer Anspruch hinter dem deutschen Recht, mehr als hinter dem österreichischen.
„Wer einen anderen tötet“ – mit Vorsatz – ist hierzulande ein Mörder. Der deutsche Mord hingegen erfordert einen Täter, der beispielsweise „aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam“ tötet. Die Bestimmung geht auf den NS-Richter Roland Freisler zurück und gilt immer noch. Auch die Nazis wollten Moral im Recht, nur halt eben eine andere. Das soll nicht heißen, dass ein demokratischer Staat sich kein Recht geben soll, das die Menschenwürde achtet, es heißt nur, dass Gesetze aus verständlichen und vollziehbaren Regeln und nicht aus Gummiparagrafen bestehen sollen.
Alle Rechtsfragen haben selbstverständlich auch eine moralische Komponente, man muss sie nur getrennt von der juristischen betrachten. Das fällt nicht immer leicht, in einem Fall wie jenem der 97-Jährigen, die nun wegen ihres Beitrags zu 10.505 Morden zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde, ist es besonders schwer.
Es hilft aber, sich vom Sühnegedanken zu verabschieden, der das Strafrecht lange geprägt hat. Das moderne Strafrecht hat zwei Zielsetzungen: die Spezial- und die Generalprävention. Strafen dienen dazu, Täter und Gesellschaft von der Begehung weiterer Taten abzuhalten. Dass spezialpräventiv bei einer 97-jährigen Beitragstäterin nicht mehr viel zu holen sein wird, ist unbestreitbar. Dass man mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe keinen Völkermord sühnt, ebenso. Man muss auch nicht darüber diskutieren, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des Holocaust und anderer NS-Verbrechen in Deutschland wie in Österreich trotz vorhandener Möglichkeiten unvollständig geblieben und wenn, dann oft zu spät erfolgt ist.
Wenn man in dieser Strafe einen moralischen Sinn suchen will, findet er sich am ehesten in der Generalprävention. Wir leben leider in einer Zeit, in der in Europa erneut ein Völkermord stattfindet – wer sich mit der Definition des Tatbestandes beschäftigt, wird im kulturellen Vernichtungszug Russlands gegen die ukrainische Nation, der auch die Verschleppung von Kindern beinhaltet, nichts anderes erblicken können. Es soll niemand glauben, dass er auch nur als Buchhalterin an solchen Verbrechen mitwirken kann, ohne dafür eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden zu können. In Russland wird diese Botschaft vermutlich verhallen. Doch wir hören sie und sollten sie nicht vergessen.