Steigt die Gewaltbereitschaft im Einzelhandel? “Ich gehe immer dazwischen”

Die verbale und körperliche Aggressivität gegenüber Mitarbeitenden nimmt immer mehr zu. Wie erleben Vorarlbergerinnen und Vorarlberger die Situation beim Einkaufen?
von Hannah Swozilek und Martin Begle
“Unsere Mitarbeiter:innen können nichts dafür, wenn die Regale leer sind. Also bleibt doch bitte freundlich und behandelt sie mit Respekt!“, steht auf einem kleinen Informationsschild in einem Wolfurter Spar geschrieben. Dahinter ein leeres Getränkeregal. Mitarbeitende im Einzelhandel sind immer häufiger mit verbaler, als auch mit körperlicher Gewalt von Kundschaft betroffen. Sei es aufgrund verlängerter Wartezeiten an der Kasse, steigender Preise, oder fehlender Produkte: so vielfältig wie die Auslöser sind, so weitläufig ist auch das Problem.
Jede und jeder zweite
Eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Gewerkschaft GPA unter mehr als 1500 Mitgliedern zeigt: fast jede und jeder Zweite wurde in Österreich schon einmal am Arbeitsplatz beschimpft, bedroht oder sexuell belästigt. Auch in Vorarlberg ist dieses Problem ein Thema. „Der gesamte Handel – egal welche Branche – bemerkt seit einigen Jahren eine steigende Aggressivität bei Kunden, wenn einmal etwas nicht ganz so läuft, wie sie sich das vorstellen“, heißt es in einem Statement von Nicole Berkmann, Unternehmenssprecherin der Spar Österreich-Gruppe.

Woher diese steigende Aggressivität komme, könne man nur vermuten. Es sei wohl ein gesellschaftliches Thema, weil viele Menschen gewohnt seien, dass immer alles „sofort und überall verfügbar ist“. Multiple Krisen in der Welt würden zusätzlich das Stresslevel erhöhen, heißt es in dem Statement weiter. Die „teilweise fragwürdigen Umgangsformen“ in den sozialen Medien würden indes wahrscheinlich ebenfalls dazu beitragen.
Interne Schulungen
„Auch wir bei Spar registrieren immer wieder schwierige Kunden und das macht es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Märkten nicht einfach. Das war der Grund, warum die Kauffrau in Wolfurt diese schriftlichen Bitten an den Regalen angebracht hat. Die Kauffrau hat dies aus eigenem Antrieb gemacht, sonst ist das bei Spar derzeit nicht üblich“, so Berkmann. Trotzdem das Thema Gewalt stetig zunehmen würde, wäre der Großteil der Kundschaft noch immer freundlich und zuvorkommend, heißt es in der Stellungnahme. „Spar hat jeden Tag gut eine Million Kunden, und wohl so etwa 999.960 sind wirklich feine Kunden, die wir sehr gerne bedienen.“
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Trotzdem wurden laut Berkmann bereits interne Schulungen verstärkt, um die Mitarbeitenden für den Umgang mit schwierigen Kunden besser vorzubereiten und ausbilden zu können. Aufgrund der wachsenden Bedeutung des Themas in Vorarlberg und auch im Rest von Österreich hörte sich die NEUE am Sonntag am Dornbirner Marktplatz unter Vorarlbergerinnen und Vorarlbergern um. Haben sie selbst bereits Erfahrungen gemacht, entweder als Zeugen oder waren direkt betroffen? Während manche die Ursache der steigenden Gewaltbereitschaft auf die Coronapandemie zurückführen, machen andere die Lebensmittelpreise dafür verantwortlich.
“Fehler können passieren”

“Ich habe übergriffige Situationen in Supermärkten mehr als nur einmal mitbekommen. Den Menschen fehlt der natürliche Anstand und das zwischenmenschliche Feingefühl. Sie werden schnell aggressiv und laut. Jeder meint, er müsse auf sein Recht pochen. Ich glaube auch, dass dieses Thema mit der Schulbildung und dem Elternhaus zusammenhängt. Je weniger Bildung und finanzielle Mittel, desto aggressiver werden die Menschen. Vor allem junge Menschen wissen oft nicht mehr, wie sie sich zu benehmen haben. Das hat sich mit Corona verstärkt, war aber auch zuvor schon präsent. Viele Menschen sehen keine Perspektive und das macht aggressiv. Ich arbeite selbst in der Gastronomie und weiß, wie hart das Geschäft ist. Ich habe Mitarbeiterinnen verloren, die nichts mehr mit Menschen zu tun haben wollten, weil sie so schlecht behandelt wurden. Wir wurden zum Teil sogar bespuckt. Reklamation an sich ist überhaupt nichts Negatives, im Gegenteil, Fehler können überall passieren. Aber zwischen Reklamation und Aggressivität ist viel dazwischen.”
Manuela Slappnig, Dornbirn
„Rücksicht nehmen“

“Ich kriege das auch so mit, wenn ich einkaufen gehe. Die Leute haben keine Zeit mehr, sind gestresst und jeder schaut nur auf sich. Sie sind ungeduldig und jeder meint, er sei der Wichtigste von allen. Ich arbeite in der Gastronomie und da gibt es auch Situationen, in denen manche glauben, man muss sich sofort und ausschließlich um sie kümmern, wenn sie sich setzen.
Man merkt auch, dass die Aggressivität zunimmt und man sich gegenseitig kaum noch menschlich wahrnimmt.
Wie gesagt, hat das wohl auch viel mit Stress zu tun. Außerdem glaube ich, dass da auch die sozialen Medien eine Rolle spielen. Da wird geschimpft was das Zeug hält und niemand macht sich Gedanken, wie das andere womöglich treffen könnte. Wir sollten wieder mehr im Hinterkopf behalten, dass die Menschen, die bei einem Nahversorger arbeiten, Dienstleister und vor allem Menschen sind. Es wäre wünschenswert, wenn die Leute wieder etwas mehr Rücksicht aufeinander nehmen. Wenn man freundlich zu anderen ist, sind die anderen freundlich zurück.”
Alexandra Csuk, Dornbirn
„Erlebe Situationen häufig“

“Nach Corona ist alles schwieriger geworden. Das hatte auf jeden Fall Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen. Auch die Pfand-Thematik belastet viele Menschen. Hier bei uns in Österreich sind die Menschen unglaublich ungeduldig. Ich merke den Unterschied dazu, wenn ich in Frankreich bin. Die Menschen sind dort viel gelassener. Ich erlebe es häufig, dass Mitarbeitende in Supermärkten schlecht behandelt werden. Wenn ich bei solchen Vorfällen dabei bin, gehe ich immer dazwischen. Ich sehe nicht ein, dass so etwas passiert. Deswegen geht es auch nicht schneller.”
Daniela, Dornbirn
„Ein Lächeln“

“Mir ist es selbst schon passiert, dass das Personal im Supermarkt unfreundlich war. So etwas geht gar nicht. Sie müssen ihre Arbeit machen und dazu gehört auch, dass man zu Kunden freundlich ist. Ich habe aber auch gemerkt, wie die Leute schimpfen. Das ist nicht gut, vor allem, wenn das Personal oft kaum etwas dafür kann. Unfreundliche Leute gibt es leider überall. Man weiß nie, wer einen schlechten Tag hat. Darum bemühe ich mich, immer mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Welt zu gehen. Jeder hat seine Probleme, ich zum Beispiel habe einen behinderten Sohn, den ich pflege. Trotzdem versuche ich, aus jedem Tag das Beste zu machen. Gut gelaunt ist vieles deutlich einfacher.”
Nurhan Yildirim, Lustenau
„Fehlende Solidarität“

“Wenn man selbst höflich ist, bekommt man das auch zurück. Ich habe auch schon erlebt, dass Menschen im Supermarkt unhöflich und aggressiv wurden, wenn es ihnen nicht schnell genug ging. Ich glaube, in solchen Situationen muss man souverän bleiben. Dass sich solche Situationen häufen, liegt sicher am zunehmenden Egoismus in der Gesellschaft – jeder denkt nur noch an sich. Ich glaube auch, dass der Freiheitsbegriff falsch verstanden wird, weil dadurch fehlende Solidarität resultiert. Die Coronapandemie sehe ich nicht als Mitgrund für diese Entwicklung, ich denke, sie wird häufig nur als Vorwand und Ausrede genommen. Die Leute sollten anfangen, an sich selbst zu arbeiten und ihr Verhalten zu reflektieren. Das würde das Problem eher lösen.”
Alexandra, Dornbirn
„Habe ich noch nicht erlebt“

“Selbst habe ich noch nie mitbekommen, dass jemand bei Nahversorger bei mir um die Ecke unfreundlich oder aggressiv geworden wäre. Ich kann mir aber schon vorstellen, dass sich das häuft. Man merkt auch in anderen Alltagssituationen, dass die Leute weniger Rücksicht aufeinander nehmen.
Ich glaube, dass das bei mir etwas anders ist, weil es ein relativ kleiner Laden ist. Da kennt man sich, ist ruhig, freundlich und entspannt. Wir sind ja alle Nachbarn. Daher hat mich diese Thematik doch einigermaßen überrascht.
Dass das in größeren Märkten aber durchaus ein Thema ist, glaube ich schon. Die Gänge sind oft eng und wenn dann Angestellte ein Regal wieder befüllen, sind sie den Kunden zum Teil zwangsläufig im Weg. Das ist aber noch lange kein Grund, aggressiv zu werden. Es ist schon ein Stück weit auch Charaktersache, ob man schlechte Laune oder Frust an anderen auslässt, die eigentlich nichts dafür können. Man weiß auch nicht, ob jemand vielleicht gerade einen schlechten Tag oder Sorgen hat, die ihm zu schaffen machen.”
Peter Oles, Sulz