Psychiater Lingg: “Die Gesellschaft ist auf einem schwierigen Trip”

Albert Lingg, langjähriger Primar am LKH Rankweil über Pflegemangel, Individualismus und Technikgläubigkeit.
Die Psychiatrie im Landeskrankenhaus Rankweil ist in den Schlagzeilen. Überlastetes Pflegepersonal schlägt Alarm, Patienten liegen teilweise auf den Gängen. Was sagen Sie zur Situation?
Albert Lingg: Das tut natürlich weh. Nachdem ich nach wie vor an der Krankenpflegeschule unterrichte, bin ich ja noch dabei. Ich habe vor allem Sorge, dass die Sache gerade in Vorwahlzeiten nicht sachlich und konstruktiv angegangen werden könnte. Man darf auch nicht übersehen, dass viele Mitarbeiter am LKH Rankweil trotz der angespannten Situation ihren Mann, ihre Frau stehen und es in vielen Bereichen noch gut hinbekommen. Und für die anderen muss gewährt sein, dass man sich weiter ernsthaft mit dieser Situation auseinandersetzt und die verschiedenen Möglichkeiten der Entlastung und auch längerfristigen Besserung konsequent angeht.
Konkret?
Lingg: Ein einfaches Rezept wäre schön, man muss an vielen Rädern drehen.
Dazu später mehr. Was bedeutet die derzeitige Situation für die Patienten und das Personal?
Lingg: Mehr Stress. Die Herausforderungen sind groß, gerade im Bereich der Psychiatrie, wo bekanntermaßen die Bezugspflege einen hohen Stellenwert hat und die eigene seelische Robustheit entscheidend mithilft.
In der Erwachsenenpsychiatrie können derzeit 40 von 150 Betten nicht belegt werden. Wo werden die Menschen betreut, die normalerweise in diesen Betten liegen würden?
Lingg: Man kann sehr viel mit guten Ambulanzen auffangen. Wir haben auch eine sehr gut aufgestellte, gemeindenahe Psychiatrie. Was die Betten betrifft, jammern wir auf hohem Niveau. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eine ordentliche Anzahl Betten. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in einen Katastrophenmodus verfallen.
“Ich habe vorallem die Sorge, dass die Sache gerade in Vorwahlzeiten nicht sachlich und kostruktiv angegangen werden könnte.”
Albert Lingg
Sie sagen also, dass 40 Betten mehr oder weniger nicht so ins Gewicht fallen?
Lingg: Naja, das ist dann halt ein Rattenschwanz. Wenn draußen die Alternativen fehlen, in den Heimen zum Beispiel, dann können die Leute nicht entlassen werden. Das führt zu einem Stau. Und das ist auch ein Problem.
Kam es in Ihrer Zeit auch vor, dass Patienten im Gang betreut werden mussten?
Lingg: Ja ich habe das auch schon mitgemacht. Ich kann gut nachvollziehen, wie es den Leuten vor Ort geht und wie schwierig es dann ist, die Versorgung noch auf Standard zu halten. Darum geht mir die aktuelle Situation auch so nahe. Der Pflegemangel ist jedenfalls nicht neu. Wir hatten Zeiten, in denen ganze Jahrgänge unserer Pflegeschule in die Schweiz gegangen sind und dann bei uns entsprechende Lücken aufgerissen wurden.

Personalmangel gibt es in allen Bereichen der Pflege. Warum trifft es die Psychiatrie jetzt besonders?
Lingg: Wir hatten für die psychiatrische Krankenpflege jahrzehntelang einen eigenen Ausbildungszweig, der außerdem auf Neurologie und Geriatrie spezialisiert war. Das sind Felder, die heute besonders gefragt sind. Bekanntlich haben wir eine Zunahme psychischer Krankheiten in allen Altersstufen. Im Rahmen der neuen Ausbildungsordnung, die österreichweit durchgesetzt wurde, ist dieser Spezialzweig kastriert worden. Jetzt gibt es zuerst eine allgemeine Ausbildung, dann kann man sich spezialisieren. Was nach bisherigen Erfahrungen zu wenige tun. Wir hatten früher jedes Jahr etwa 30 Diplomierte, die dann im Krankenhaus, aber auch in vielen anderen Bereichen, etwa der Suchthilfe, in Sozialzentren und vor allem in der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung eingesetzt waren. Es wurde unterschätzt, wie einschneidend der Mangel bald spürbar sein würde.
Das heißt, die neue Ausbildungsordnung war ein Schuss ins Knie?
Lingg: Ja, vor allem für die Psychiatrie. Daneben muss sich auch erst weisen, wie sich die Teil-Akademisierung und Neuordnung der Pflegeberufe auswirken.
Wie lange könnte diese schwierige Zeit dauern?
Lingg: Mindestens ein Jahrzehnt, fürchte ich.
Unsere Gesellschaft ist hier auf einem schwierigen Trip, wie schon der gute alte Viktor Frankl gesagt hat.
Albert Lingg
In Vorarlberg sind bis 2030 rund 2300 zusätzliche Pflegekräfte gefragt. Wo sollen die denn herkommen, wenn der Personalmangel jetzt schon so eklatant ist und nichts nachkommt?
Lingg: Was das Interesse am Pflegeberuf angeht, gab es immer wieder Schwankungen, auch in Abhängigkeit von der Konjunktur und herrschendem Zeitgeist, worauf wir nicht bauen können. Die zuständige Landesrätin (Anm. Martina Rüscher) hat auch zu Recht angeführt, dass es mehr oder weniger beeinflussbare Ebenen gibt und auch auf notwendige strukturelle Veränderung in der Gesundheitsversorgung hingewiesen, die einen effizienteren Personaleinsatz möglich machen wird. Bemühungen in der Prophylaxe sind nötig. Es gibt Länder, in denen die Pflegebedürftigkeit später auftritt als bei uns. Das Gesundheitsbewusstsein und die Eigenvorsorge sind in Österreich nicht gerade vorbildhaft.
Welche Maßnahmen müssten Ihrer Meinung nach konkret getroffen werden, um den Pflegemangel nachhaltig zu beheben?
Lingg: Es ist so, dass endlich die verschiedenen Ausbildungsstätten zusammengelegt wurden. Das war längst überfällig. Damit sind viele Synergien da. Im Ausbildungsbereich müssen mehr Kapazitäten geschaffen werden. Die Pflegelehre ist ein Nebenschauplatz, aber nicht unwichtig. Anreize für Aufschulungen, Berufsumsteiger und Spezialisierungen sollten forciert und unterstützt werden.
Arbeiten aufgrund der Akademisierung des Berufs zu wenige Pflegekräfte am Bett?
Lingg: Ein wichtiges Thema. Die Bürokratie, die Dokumentation hat ein enormes Ausmaß angenommen. Unsere Pflegestützpunkte sind zu Schreibstuben geworden. Die Arbeit am Patienten hat dadurch eindeutig gelitten. Man sollte sich hier unbedingt einmal anschauen, inwieweit diese überbordende Dokumentation abgestellt werden kann.

Wie stehen Sie zur Rekrutierung von Pflegekräften aus dem Ausland?
Lingg: Wir werden da nicht umhinkommen. Schon in den 1960er-Jahren wurden Pflegekräfte aus den Philippinen geholt. Das waren hervorragende Mitarbeiter, zum Teil besser ausgebildet als damals unsere Leute. Gleichzeitig ist es problematisch, wenn wir armen Ländern jene Ressourcen wegnehmen, die sie selbst dringend brauchen. Wir sollten dort Krankenpflegeschulen installieren, um ihnen zu helfen und gleichzeitig selbst davon zu profitieren.
Warum hat die Pflege hierzulande so ein Problem?
Lingg: Der Pflegemangel ist ein globales Problem, vor allem in den reichen Ländern. Meiner Meinung nach muss es eine grundlegende Einstellungsänderung geben. Wir müssen basale Dinge, die für eine Gesellschaft wichtig sind, entsprechend forcieren. In den reichen Ländern sind wir übermütig geworden, es dominiert die Freizeit- und die Unterhaltungsindustrie, das Gesundheits- und Bildungswesen wird vernachlässigt. Das hat auch mit dem Zeitgeist zu tun, mit dem Individualismus. Das ist etwas, das auch durchschlägt.
Inwiefern?
Lingg: Jeder möchte rund um die Uhr bestens versorgt sein. Aber da braucht es eben ausreichend Manpower. Leute, die ausgebildet sind, aber auch menschenfreundlich eingestellt sind. Unsere Gesellschaft ist hier auf einem schwierigen Trip, wie schon der gute alte Viktor Frankl gesagt hat. Der technische Fortschritt verführt zum Glauben fast alles so lösen zu können. Die Digitalisierung und ständig neue Organisationsmodelle haben da bisher zu viel versprochen.
Zurück nach Vorarlberg ….
Lingg: …. vor allem hier sind wir sehr technikgläubig. Man darf tatsächlich stolz sein auf so viele innovative und tüchtige Firmen. Die werden von der Politik und den Medien entsprechend gefeiert und haben natürlich in punkto Personalbeschaffung und Werbemitteln eine ganz andere Power als wir Krankenpflegeschulen.
Die Politik setzt ihre Priorität schon sehr stark in Richtung Wirtschaft.
Albert Lingg
Hat die Politik zu wenig gelenkt?
Lingg: Ich denke, auch unsere Politik setzt ihre Priorität schon sehr stark in Richtung Wirtschaft. Vertreter des Gesundheits- und Sozialwesens haben es ringsum schwer, ihre wachsenden Budgets zu rechtfertigen. Es gab und gibt auch schwer zu überwindende Widerstände, im Spitals- und gesamten Versorgungswesen neue Schwerpunktsetzungen durchzusetzen. Da soll jetzt aber einiges in Bewegung sein, wie ich höre. Beharrungstendenzen gibt es auch bei der Ärztekammer, wenn es um neue Formen der Zusammenarbeit geht. Wir werden da aber nicht umhinkommen, auch weil die Work-Life-Balance eine andere Rolle spielt wie noch zu meiner Zeit.

Sie haben die starke Industrie angesprochen. Daneben haben wir in Vorarlberg hohe Lebenserhaltungskosten, dann noch die Nähe zur Schweiz. Das macht die Sache nicht leichter.
Lingg: Es ist eine schwierige Situation. Die MINT-Fächer (Anm.: Abkürzung für die Ausbildungsfelder Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) werden bis in den Kindergarten hinein propagiert. Andere Bereiche, in denen es um Kreativität und Herzensbildung geht, sind eher ins Hintertreffen geraten. Die Nähe zur Schweiz hat uns früher sehr weh getan. Das ist jetzt nicht mehr so arg, viele haben gesehen, dass es dort in Sachen Arbeitnehmerschutz und sozialer Absicherung nicht zum Besten steht.
Es müssen die Rahmenbedingungen passen, um jungen Menschen den Pflegejob gut verkaufen zu können. Es gibt doch sicher viele junge Menschen, die eine sinnvolle und krisensichere Beschäftigung suchen.
Lingg: Das haben wir wohl zu wenig ins Treffen geführt. Bewährt haben sich bei uns immer Führungen und Tage der offenen Tür, auch für Maturanten. Junge Leute, die in den Beruf hineinschnuppern oder auch Zivildienst machen, erkennen häufig, welch sinnstiftender und krisensicherer Beruf hier anzugehen wäre. Zwei meiner Kinder sind in der psychiatrischen Pflege unterwegs, in ganz unterschiedlichen Bereichen. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig. In kaum einem anderen Beruf ist man näher am Menschen.
Verdienen Pfleger genug?
Lingg: Es gibt drei Faktoren, die für die Zufriedenheit ausschlaggebend sind: Das Ansehen eines Berufes, gerechter Lohn und die Arbeitsverhältnisse. Natürlich muss man beim Gehalt was drauflegen, wenn andere Bereiche höher dotiert werden. Das Wichtigste ist aber, dass die Leute das Gefühl haben, sie tun etwas Sinnvolles. Auch das Arbeitsklima und dass die Mitarbeiter entsprechend Verantwortung bekommen, ist wichtig. Da haben wir noch Aufholbedarf.
Zur Person
Geboren 1949 in Au/Bregenzerwald. Medizinstudium in Innsbruck und Wien, Ausbildungen in Psychiatrie in Wien, Münsterlingen (CH), Heidenheim und Würzburg (D) . Primar am LKH Rankweil 1981–2014. Leitete die psychiatrische Krankenpflegeschule Rankweil und unterrichtet nach wie vor.