“Wir ächten die Tat, aber achten den Menschen”

Susanne Borchert ist Bewährungshelferin beim Verein Neustart in Bregenz. Sie arbeitet mit Menschen, die straffällig geworden sind.
Rund um die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird viel über Gewaltprävention gesprochen. Doch was muss geschehen, wenn es einmal zu Gewalt gekommen ist? Susanne Borchert ist Bewährungshelferin beim Verein „Neustart“ in Bregenz und arbeitet mit Menschen zusammen, die straffällig geworden sind. Dabei geht es unter anderem um häusliche Gewalt.
„Neustart leistet einen großen Beitrag für die Gesellschaft“, findet Borchert. „Wir bieten ein individuelles Programm an, auf jeden Klienten abgestimmt. Das nennt sich die Deliktverarbeitung, da werden die jeweiligen Delikte minuziös aufgearbeitet.“ Es wird genau analysiert, was sich im Innenleben des Täters am Tag der Gewalttat abgespielt hat, mögliche Auslöser werden gesucht. Was beeinflusst das Verhalten des jeweiligen Klienten?

„Mit dieser Methodik erreichen wir eine hohe Einsicht. Die Täter und Täterinnen finden heraus: Wie ticke ich eigentlich? Was sind meine Risiken? Worauf muss ich in Zukunft aufpassen?“ Oft würden sich Personen zu wenig selbst kennen, um mögliche Triggerpunkte einzuschätzen. Es gelte, diese Muster anhand von sogenannten „Handelsplänen“ zu erarbeiten, um erneute Gewalt zu vermeiden. „Was mache ich, wenn …? Wo habe ich die Möglichkeit, Handlungen, die mir im Nachhinein sehr leidtun werden, zu vermeiden? Für genau diese Fragen entwickeln wir Notfallpläne“, so Borchert. Diese Notfallpläne können ganz einfach sein. „Es gibt Klienten, denen reicht das Wissen, dass ihr Verhalten als Konsequenz Freiheitsentzug hat. Das ist neben dem Tod eine der größten Ängste der Menschen.“
Teil der Gesellschaft
„Unser oberstes Ziel ist die Rückfallprävention“, erklärt die Bewährungshelferin. Um dieses Ziel nachhaltig erreichen zu können, müssten sich die Personen oft zuerst selbst kennenlernen. „Hier geht es darum, Werte und Einstellungen zu hinterfragen. Dann haben die Menschen die Möglichkeit, zu lernen. Genau das machen wir hier: Wir versuchen, miteinander zu lernen“, lacht Borchert. Es gehe darum, die Auslöser für Gewalttaten nachvollziehen zu können. „Das heißt nicht, dass wir die Tat für gut befinden. In unserem Leitbild steht: Wir ächten die Tat, aber achten den Menschen. Genau diesen Satz leben wir hier bei Neustart“, erklärt sie. „Die Menschen bleiben Teil der Gesellschaft. Sie fallen ja nicht einfach weg.“ Wichtig sei, Gewalttäter wieder so zu integrieren, dass Sicherheit für die Gesellschaft entstehe. „Die Menschen bekommen nie die Möglichkeit, zu reflektieren, was sie getan haben. Es geht immer nur um die Tat an sich. Wir schauen uns hier die Hintergründe an.“ Diese würden Aufschluss darüber geben, warum sich jemand so verhalte, wie zum Zeitpunkt der Tat.

„Ich habe einen Klienten, der zwei Verurteilungen wegen häuslicher Gewalt hat. Er sagte einmal zu mir: Mich hat noch nie jemand gefragt, wie es mir dabei ergangen ist, oder wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ich konnte mich noch nie erklären“, erzählt Borchert. An der Wand hängt ein Bild, das vermutlich unter die moderne Kunst fallen würde, würde es in einem Museum hängen. „Das hat einer meiner Klienten für mich gemalt“, erzählt sie. Sie scheint ein sichtlich gutes Verhältnis zu ihren Klienten zu pflegen. Dies erfordert viel Zeitaufwand. Bis zu fünf Jahre werden die Menschen teilweise begleitet. Doch was passiert, wenn jemand überhaupt keine Einsicht zeigt? „Das kann vorkommen. Es sind aber tatsächlich sehr wenige, bei denen das der Fall ist.“
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Veränderung möglich
Bei Gewalttätern würde oft ein großer Leidensdruck dahinterstecken. „Wenn es gar kein Durchdringen gibt, ist das auch zu akzeptieren. Keine Veränderungsbereitschaft zu zeigen, ist aber eine Momentaufnahme. Diese Menschen wollen sich zwar verändern, es ist ihnen schlichtweg einfach noch nicht möglich“, erklärt Borchert. Durch die lange Betreuungsphase von drei bis fünf Jahren würden sich große Erfolge abzeichnen. „Während der Probezeit wird nur ein ganz geringer Prozentanteil wieder straffällig“, erzählt sie. „Es sind auch schon kleine Schritte, die bemerkenswert sind. Das kann zum Beispiel Termineinhaltung sein“, erklärt Borchert. Der Gang zur Bewährungshilfe sei oft schambehaftet. „Der Schlüssel unserer Arbeit ist die Beziehungsarbeit“, findet sie. Die Klienten haben ein bestimmtes Umfeld, in dem Gewalt toleriert wird und ein akzeptables Mittel sei, um sich durchzusetzen. „Bei uns erfahren sie, dass es andere Möglichkeiten gäbe.“ In Beziehungen würden oft kleine Auslöser für ein großes Unglück reichen. „Oft ist es die Zahnpastatube, die nicht zugemacht wurde.“
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Eine Herzensangelegenheit
„Das Thema Straffälligkeit hat etwas Spannendes für mich. Der Job ermöglicht mir, hinter die Tat zu schauen. Ich will herausfinden, was Straftäter bewegt und wie sich solche Abgründe der Psyche auftun können“, sagt Borchert. „Die Menschen, die mir hier begegnen, wollen genau dasselbe, was die Gesellschaft auch von ihnen will. Sie wollen einen bezahlten Job und eine Familie.“ Für jemand Außenstehendes mag der Job sehr einvernehmend klingen, doch nicht für Susanne Borchert. „Ich muss nicht immer abschalten können, wenn ich zur Türe hinausgehe. Ich habe gelernt damit umzugehen, dass mich Geschichten auch nach Feierabend noch berühren dürfen“, erzählt sie. „Wenn ich das nicht mehr kann, dann bin ich hier absolut falsch.“ Auch während des Interviews hört Borchert kaum auf zu lächeln, während sie über ihre Arbeit spricht. „Ich merke, je mehr ich jetzt darüber spreche, wie mir das Herz aufgeht. Dieser Job bereichert mich.“ Falls es bei den Bewährungshelfern zu hoher psychischer Belastung kommen sollte, stehen Supervisionskurse zur Verfügung.

Nie mehr wiedergesehen
Borcherts ältester Klient war über 80 Jahre alt und definitiv eine Herausforderung. „Anfangs war es schwierig mit ihm, weil er dachte, was will mir eine 30-Jährige schon vom Leben erzählen.“ Der Mann sei in seiner Ehe gewalttätig gewesen und schien die Gespräche, aufgrund des hohen Altersunterschiedes, zu belächeln. „Nach einiger Zeit konnte er sich öffnen und merkte, dass es ihm hilft, mit mir zu sprechen. Als diese Mauer gebrochen war, war ich sehr erleichtert und auch stolz“, erzählt sie. Seit ihrer Betreuungszeit habe sie ihn nie wieder gesehen. „Das ist super, denn es bedeutet, dass der Mann nicht mehr straffällig geworden ist“, freut sich Borchert. „Ich erlebe hier Großartiges. Alleine wenn ich eine Karte aus der Justizanstalt erhalte, mit der Aufschrift ‚Danke Susanne, dass du in der Zeit vor meiner Strafe da warst und mich auch jetzt noch besuchen kommst‘, merke ich, wie sehr ich diesen Menschen Halt gebe.“