Politik

“Niemand kann derzeit Wahlkämpfe brauchen”

04.12.2021 • 19:23 Uhr
"Niemand kann derzeit Wahlkämpfe brauchen"

Der Vizekanzler erfuhr aus den Medien, vom Umbau des Regierungsteams.

Wissen Sie noch, wen Sie in der ÖVP anrufen, wenn Sie etwas brauchen?
Ja, da gibt’s mehrere. Ich habe zum designierten Bundeskanzler eine hervorragende Gesprächsbasis. Bekanntermaßen ist auch ein gutes Verhältnis zu den Landeshauptleuten in der ÖVP eine günstige Voraussetzung – immer schon, und jetzt erst recht. Wenn es um dringende Fragen wie die Bekämpfung der Folgen der Pandemie geht, versuchen wir natürlich, die Bundesländer stark einzubinden.

Wann haben Sie erfahren, dass die ÖVP ihr Regierungsteam umbaut?
Am Donnerstag sind am frühen Vormittag erste Überschriften von Online-Medien bei uns aufgeschlagen. Ich habe dann aber in der Folge mit Karl Nehammer und auch Alexander Schallenberg Kontakt gehabt. Wir sind informiert worden, welche Entscheidungen im Sinn einer Neupositionierung anstehen. Wichtig war uns, dass es rasche Entscheidungen gibt, aber nicht, wer genau was wird.

Ist es Ihnen egal, wer Ihnen als Regierungschef vorgesetzt wird?
Natürlich ist es nicht egal. Aber es ist nicht an uns, dem Regierungspartner Vorschriften zu machen. Im Übrigen gilt das natürlich auch, wenn die Grünen eine Umstellung des Regierungsteams machen.

Im Februar musste im grünen Parlamentsklub Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass ein Misstrauenseintrag gegen Karl Nehammer nicht unterstützt wird. Wie ist ihr Verhältnis zum neuen Bundeskanzler?
Die Gesprächsbasis ist sehr gut, auch anderen Grünen gegenüber. Es gab in der Vergangenheit ein paar Konflikte, aber wir haben uns ausgesprochen. Das macht ein Verhältnis dann auch tragfähig. Nach der Abschiebung im Februar, die wir scharf kritisiert haben, kam es zu tatsächlichen Verbesserungen. Es gibt zum Beispiel so viele positiv beschiedene humanitäre Bleiberechtsfälle, wie in keiner Regierung zuvor, auch nicht unter roter Kanzlerschaft. Das ist das Ergebnis von guten Gesprächen zwischen uns.

Jetzt gibt es einen neuen Innenminister, Gerhard Karner. Kennen Sie ihn?
Er ist mir bekannt, aber wir haben bisher noch nichts miteinander zu tun gehabt. Spätestens bei der Angelobung werde ich ihn kennenlernen.

Karner gilt als Hardliner. Wird das Thema Migration und Asyl wieder mehr zum Konfliktthema?
Warum sollte es? Im Regierungsprogramm ist klipp und klar verankert, dass in diesen Bereichen immer die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Grundrechte zu gelten haben. Darüber hinaus bleibt die gute Gesprächsbasis zu Karl Nehammer ja auch als Bundeskanzler.

Martin Pollaschek, der neue Bildungsminister, ist ein Steirer. Hatten Sie mit ihm schon Berührungspunkte?
Auch nicht, aber ich weiß, dass er sehr viele Innovationen an der Universität Graz eingeleitet hat. Wie er Dinge angeht, macht ihn sehr sympathisch.

Magnus Brunner, den neuen Finanzminister, kennen Sie. Als Staatssekretär war Ihr Nachbar hier im Haus. Wie haben Sie ihn bis jetzt in der Regierung erlebt?
Naja, als Staatssekretär hat er natürlich nicht die Möglichkeiten wie ein Minister, aber er ist ein sehr kommunikativer, verbindlicher Mensch. Die Aufgabe eines Finanzministers ist jetzt eine völlig andere. Die Umsetzung der ökologisch-sozialen Steuerreform ist ein Megaprojekt mit ganz großen Stellschrauben für die Zukunft. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir die Projekte, die wir gemeinsam aufgegleist haben, gut fortführen werden.

Die Begutachtungsfrist für die Steuerreform endet am Montag. Werden Sie das Paket mit Ihrem neuen Gegenüber noch einmal neu aufschnüren müssen?
Das glaube ich keinesfalls, weil es in diesen großen Eckpunkten bestechend ist. Wir haben diese Riesenreform, die eine echte Innovation im Steuer- und Abgabensystem ist, ja als gesamte Regierung eingebracht.

Im Klimaschutz-Ministerium gibt es keinen ÖVP-Staatssekretär mehr. Ist das ein Vorteil für Leonore Gewessler?
Ich sehe darin weder Vorteil noch Nachteil. Ich habe mit Magnus Brunner immer gut zusammengearbeitet. Die Diskussionen, die es bei so unterschiedlichen Parteien und Regierungspartnern gibt, wird es nachher genauso geben wie vorher. Da wird es sich nicht ändern, aber das Aufgabengebiet wird größer. Ansonsten ist es ein ständiges Ringen, wie man mit unterschiedlichen Ansätzen zu gemeinsamen Positionen kommt. Aber gerade in dem Bereich gelingt das mit der ÖVP sehr gut.

Beim Lobau-Tunnel gab es keine gemeinsame Position, sondern einen grünen Alleingang. Im Sinne der ÖVP war das nicht…
Aber im Sinne des Klima- und Umweltschutzes und im Sinne der zukünftigen Generationen. Daraus haben wir nie einen Hehl gemacht. Außerdem ist das eine Entscheidung, die in die Ressortkompetenz fällt und das trägt nicht umsonst Klimaschutz im Namen. Es gibt auch Ressortentscheidungen, die die ÖVP ohne uns trifft.

Wie wirkt sich die geschwächte ÖVP auf das Selbstbewusstsein der Grünen aus?
Uns geht es nicht um Stärke oder Schwäche in der Regierung, sondern darum, dass wir dort nachlegen, wo Österreich Aufholbedarf hat. Zum Beispiel im Transparenz- und Antikorruptionsbereich werden sicher Dinge weitergetrieben werden. Nach einem zwischenzeitlichen Durchhänger wird es auch mit der Neuordnung und der Transparenz der Parteienfinanzierung vorwärtsgehen. Das steht auch im Regierungsprogramm. Wenn es hilft, dass die Grünen da dranbleiben, dann ist das gut.

Die Opposition fordert Neuwahlen. Werden Sie einem Antrag im Parlament zustimmen?
Also, ich weiß nicht, ob alle Oppositionsparteien Neuwahlen wollen. Bei der Sozialdemokratie kenne ich mich aktuell nicht genau aus, da gibt es verschiedene Positionen. Aber allen muss klar sein, dass wir gerade mit dramatischen Folgen einer weltweiten Pandemie kämpfen. Das muss unsere allererste Aufgabe sein. Dann geht es darum, dass wir alles, was wir in der Regierung beschlossen haben – die Steuerreform etwa – auch wirklich umsetzen. Wir haben mit dem Regierungsprogramm einen Vertrag mit der ÖVP, demgegenüber bin ich verpflichtet.

Sie wollen also mit der ÖVP weiterarbeiten?
Ja, natürlich. Aber es ist auch kein Selbstzweck. Es geht um essenzielle Modernisierungsschritte und darum, das Funktionieren des Staates zu verbessern. Aber ja, ich verstehe auch Argumente dafür, dass man Neuwahlen nicht ausschließen sollte.

Was spricht denn dafür?
Dass die ständigen Rochaden in der ÖVP manche zweifeln lassen, ob diese Konstellation das ist, wofür man ursprünglich wählen gegangen ist. Ich halte diese Frage für zulässig. Mir ist wichtig, dass wir das Staatsschiff in diesen schwierigen Zeiten weiter navigieren. Aber wenn für eine große Mehrheit der Eindruck entsteht, dass das nicht gelingen kann, ist klar, dass sich die Frage stellt.

Seit Jahrzehnten sieht man aus Umfragen wieder eine Mehrheit für SPÖ, Grüne und Neos. Wäre so eine Ampel-Koalition aus grüner Perspektive nicht reizvoll?
Ich werde mir jetzt nicht aus einem von Meinungsumfragen getriebenem Kalkül heraus selbst widersprechen. Die ideologische Frage ist legitim, aber ich habe mich selten an Umfragen orientiert. Dazu kommt jetzt aber: Niemand kann in nächster Zeit Wahlkämpfe brauchen, weil sie monatelang die Entscheidungsfähigkeit in Österreich zum Erliegen bringen. Wir müssen jetzt Kurs halten und Verantwortung leben.