Politik

“Ich würde nicht blind ein Ticket zurück nach Syrien buchen”

17.04.2025 • 06:00 Uhr
"Ich würde nicht blind ein Ticket zurück nach Syrien buchen"
Aljeen Hasan berichtet von der Situation in Syrien nach dem Umsturz. canva/ap/privat

Vor neun Jahren flüchtete Aljeen Hasan (25) von Syrien nach Österreich, wo sie Autorin und freie Journalistin ist. Sie spricht über ihre persönliche Geschichte und die aktuelle Lage in ihrem Heimatland nach dem Umsturz.

Das Gespräch mit Aljeen Hasan in Videoform:

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Nach 54 Jahren wurde die al-Assad-Diktatur im Dezember 2024 in Syrien gestürzt. In Europa kam diese Entwicklung für viele überraschend. Für Sie auch?
Aljeen Hasan: Ja, es war für alle überraschend. Wir wussten, dass sich im Assad-Regime etwas bewegt, aber dass der Sturz so schnell kommt, war nicht vorhersehbar.

Nach dem Umsturz ist mit Ahmed al-Scharaa der ehemalige Rebellenführer an der Macht, der versprochen hat, das Land friedlich wieder aufzubauen und Minderheiten zu schützen. Wie realistisch sind diese Versprechungen?
Hasan: Ich verstehe seine Intention, allerdings kann ich es realistisch nicht sehen. Das Land ist gespalten in sehr viele Gruppierungen, die gegeneinander kämpfen und Hass ausüben. Ich glaube, er ist dabei, die richtigen Schritte zu setzen, aber im Jahr 2025 kann man nicht davon ausgehen, dass es sich Richtung Frieden bewegt.

Welche Gruppen bekämpfen sich in Syrien gegenseitig?
Hasan: Eine Gruppierung ist die jetzige al-Scharaa-Regierung, die mit HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham) einen terroristischen Background hat. Innerhalb von HTS haben sich kleinere Gruppen gebildet, die Minderheiten bekämpfen. Auf der anderen Seite ist die Gruppe der Syrien Democratic Forces (SDF), mehrheitlich geführt von Kurden. Es gibt aber auch die Drusen und die Aleviten – die religiöse Gruppe von Bashar al-Assad. Die Sunniten greifen diese Gruppen an, die aber auch bewaffnet sind. Es gibt viele bewaffnete Gruppen in Syrien.

Aljeen Hasan
Aljeen Hasan ist freie Journalistin, Aktivistin und Autorin. zeo opratko

Das Bild vieler Europäer von Syrien ist geprägt vom jahrelangen Bürgerkrieg und der Diktatur. Wie kann man sich das Land im Jahr 2025 vorstellen?
Hasan: Man kann sich noch kein klares Bild von Syrien vorstellen. Es bewegt sich sehr vieles sehr schnell. Jeden Monat gibt es neue Deals zwischen Gruppierungen, die man sich nicht hätte vorstellen können. Da wäre zum Beispiel ein Abkommen zwischen der SDF und der Regierung in Damaskus, mit dem Ziel, die SDF in die syrischen Institutionen politisch, aber auch militärisch zu integrieren.

Eine sehr undurchsichtige Lage.
Hasan: Ja, genau. Es gibt viele Gespräche mit anderen Ländern wie der Türkei oder Europa. Vieles kann passieren, wenn es zu einem Deal kommt. Ende 2025 soll die Bildung einer fixen Regierung abgeschlossen sein, aber noch hat kein Minister damit begonnen, die Arbeit aufzunehmen. Man kann nicht sagen, was in diesem Jahr noch passieren wird.

Interview Aljeen Hasan
Die NEUE sprach mit Aljeen Hasan in einem Video-Interview via Zoom.
screenshot/zoom

Manche Syrer überlegen sich eine Rückkehr ins eigene Land. In Österreich kündigte Innenminister Karner ein großes Rückführungsprogramm an. Umgesetzt wurde auch eine finanzielle Starthilfe von 1000 Euro bei freiwilliger Rückkehr nach Syrien. Ist das angesichts der aktuellen Lage im Land zumutbar?

Hasan: Wenn es um die finanzielle Unterstützung von Europa oder Österreich geht, kommt immer die Begründung, man könne nichts finanzieren, weil man nicht weiß, wie die Lage aussieht oder wie die neue Regierung sich verhält. Meiner Meinung nach sollte Österreich bei der Rückführung der Menschen genauso abwarten, weil vieles nicht vorhersehbar ist. Bei der erwähnten freiwilligen Rückkehr reicht das Budget von 1000 Euro nicht einmal für drei Monate. Genau wie in Österreich wird in Syrien alles teurer. Der andere Aspekt ist die Sicherheit: Für Menschen mit gewissen ethnischen Backgrounds ist es nicht sicher, ob sie angegriffen werden oder ob die neue Regierung ihre Rechte gewährleistet. Es gibt viele offene Punkte und erst wenn diese geklärt sind, kann man ein Rückführungsprogramm starten. Was ich aber hinzufügen will: Viele Menschen, zumindest 80 Prozent, möchten schon nach Syrien zurückkehren, schließlich ist es ihr Heimatland. Sie sind aufgrund der aktuellen Lage aber unsicher.

Würden Sie selbst zurückkehren wollen?
Hasan: Ich glaube, zurückkehren will jeder Mensch, der aus seinem eigenen Land geflüchtet ist. Man ist ja nicht freiwillig hier, man wurde dazu gezwungen, ohne sich richtig darauf vorbereiten oder von Freunden und Familie verabschieden zu können. Ich gehöre auch zu den Menschen, die zurückkehren wollen, allerdings mit einer klaren Aufgabe. Komplett nur in Syrien zu sein, ist nach neun Jahren in Österreich auch nicht vorstellbar für mich. Ich würde nicht blind ein Ticket nach Syrien buchen wollen, sondern würde den Schritt genau studieren – mit dem Hintergrund, dass ich am Wiederaufbau des Landes arbeite und mit Bezug auf Österreich schaue, wie man kooperieren und Lösungen anbieten kann.

Aljeen Hasan
Aljeen Hasan: “Man ist nicht freiwillig geflüchtet.” privat

Vor neun Jahren sind sie nach Österreich geflüchtet. Was waren Ihre Eindrücke auf der Flucht?
Hasan: Flucht ist etwas Schreckliches. Innerhalb kürzester Zeit muss man diese Entscheidung treffen und plötzlich befindest du dich an einem Ort, von dem du nie geträumt hast, den du dir nie vorgestellt hast. Dazu kommen die emotionalen Aspekte. Es ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt und das thematisiere ich sowohl in meiner journalistischen Arbeit als auch in meinem Buch, damit die Menschen wissen, wie schlimm Flucht ist. Ich glaube, vielen ist das bewusst, aber sie möchten die Realität nicht mehr sehen oder haben das Thema einfach satt. Man verlässt eben nicht nur sein Heimatland, es passiert auch vieles innerlich. Für mich persönlich war die Flucht ein Schritt, der einfach geschehen musste und ich bin froh, das Beste daraus gemacht zu haben – ein Neustart mit Erfolg, Emanzipation und Selbständigkeit.

Wie gelang Ihnen die Integration in Österreich? Wie wurden Sie aufgenommen?
Hasan: Ich bin sehr positiv aufgenommen worden. Da ich schon Englisch und Türkisch sprach, konnte ich mit einigen Menschen schon kommunizieren. Die haben mir geholfen, bei meiner Studiumssuche und bei der Anerkennung meiner Zertifikate. Es gibt natürlich immer wieder rassistische Kommentare, die gibt es aber überall, glaube ich.

Gibt es Aspekte, bei denen Sie sich mehr Unterstützung gewünscht hätten?
Hasan: Das thematisiere ich in allen meinen Werken: Die emotionale Unterstützung hat mir gefehlt. Das Gefühl, dass wirklich jemand für mich da ist, vor allem von den Institutionen. Es gibt sehr viele Institutionen in Österreich, die für Flüchtlinge zuständig sind, wenn sie neu ankommen. Ich weiß, dass diese Menschen nur Zahlen oder Akten für sie sind. Aber es sollte genau hingeschaut werden, was eine Person braucht und wenn die Zeit nicht reicht, dass man sie zu anderen Anlaufstellen verweist, wo sie sich Beratung holen kann. Diese emotionale Unterstützung, das Individuelle, das Zwischenmenschliche – das hat mir ab und zu gefehlt. Jemand in der Rolle eines Mentors, der mir zeigt, was in Österreich gut läuft und was nicht gut läuft und wo die kulturellen Unterschiede liegen, hätte vieles einfacher gemacht.

Aljeen Hasan
Für den nicht-kommerziellen TV-Sender FS1 hostet Hasan die Sendung “Jenseits der Schlagzeilen”.

Wie sind Sie zu Ihrer Tätigkeit als Journalistin und Autorin gekommen?
Hasan: Ich habe in Syrien bis zur Matura gelernt, aber die Prüfung nicht abgeschlossen. Seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich Journalistin werden möchte, doch aufgrund des Kriegs konnte ich diesen Traum nicht realisieren. Deshalb war für mich klar: Sobald ich in einem sicheren, stabilen Land bin, möchte ich ein Studium im Journalismus beginnen. In Salzburg studierte ich Kommunikationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Digital Media. Danach habe ich viele Praktika bei unterschiedlichen Medienanbietern gemacht und konnte mich dann freiberuflich im Journalismus bewegen.

Wie sieht Ihr aktueller Arbeitsalltag aus?
Hasan: Ich bin angestellt bei einer NGO und mache daneben eine TV-Sendung bei FS1. Diese Sendung wollte ich immer umsetzen, habe es aber neben meiner Berufstätigkeit immer wieder verschoben. Als das Assad-Regime gestürzt worden ist, habe ich mir gedacht: “Jetzt mache ich es.” Bei “Jenseits der Schlagzeilen” geht es um individuelle Geschichten von Menschen, die geflüchtet sind. Bei jeder Folge lade ich einen Gast ein, der von seiner Fluchtgeschichte und der Integration erzählt.

Veranstaltungshinweis

Neue Spielräume: Syrien nach Assad
Unter diesem Titel findet heute eine Podiumsdiskussion am Spielboden in Dornbirn statt. Zu Gast sind Aljeen Hassan (Autorin, freie Journalistin und Aktivistin), Omar Khir Alanam (Autor und Poetry Slammer), Salah Farho (Jurist, zertifizierter Dolmetscher und Übersetzer) und Tammam Jammoul (Arzt und Trainer).
Beginn: 19.30 Uhr; Eintritt 12 Euro