“In Zukunft wird nicht jeder bis 67 arbeiten müssen”

Neos-Nationalrat Johannes Gasser über die Regierungsverhandlungen, den „Skandal-Staatssekretär“ Sepp Schellhorn und die Erhöhung des Pensionsantrittsalters.
Sie haben vergangenes Jahr Ihren Platz im Landtag gegen eine – wie sich herausstellen sollte – erfolgreiche Kandidatur für den Nationalrat eingetauscht. In den Worten eines ehemaligen Vizekanzlers: War Vorarlberg „too small“ für Sie?
Johannes Gasser: Ganz und gar nicht. Die Aufgabe im Landtag habe ich wahnsinnig gerne gemacht, weil die Dinge, die dort diskutiert werden, eine rasche und unmittelbare Auswirkung haben. Im Nationalrat darf ich nun die Erfahrungen von der Landesebene einbringen. Die Vorarlbergerinnen und Vorarlberger vertrete ich nach wie vor, nur auf einer anderen Ebene.

Sie waren Teil des Neos-Verhandlungsteams, das der Dreierkoalition im Bund den Weg geebnet hat, obwohl im Jänner die Gespräche mit ÖVP und SPÖ mangels Reformbereitschaft beendet wurden. Haben sich die beiden Parteien derart gewandelt oder haben die Neos eingelenkt?
Gasser: Ich habe das Gefühl, dass bei manchen Ende Dezember, Anfang Jänner andere Optionen im Kopf da waren – gerade bei der ÖVP in Richtung Blau-Schwarz. Es gab auch die Diskussion, ob Schwarz und Rot nicht auch zu zweit arbeiten. Im Laufe des Jänners und Februars, als sich zeigte, dass die FPÖ nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, sind alle Parteien einen Schritt aufeinander zugegangen und über ihren Schatten gesprungen. Diese Reformbereitschaft zeigte sich in manchen Bereichen, wo sie vorher nicht da war. Aus einer Verantwortung und Notwendigkeit sind wir diesen Schritt gegangen.
In welchen Bereichen zeigten sich SPÖ und ÖVP reformbereiter?
Gasser: Tatsächlich auch in einem Bereich, für den ich hauptverantwortlich war. Die Einigung im Pensionsbereich auf den Nachhaltigkeitsmechanismus, der jetzt in Gesetzesform gegossen wurde, war im Jänner noch nicht möglich.
In welchen Bereichen war die Umstellung von Opposition auf Regierungspartner am größten?
Gasser: Ich habe selbst den Wandel von der Oppositionstätigkeit im Landtag in die Regierungsverantwortung auf Bundesebene mitgemacht. Der wesentliche Unterschied ist, dass man den Weg zu Kompromissen finden muss. Das macht unsere Demokratie auch aus. In der Opposition kann man immer alles besser wissen und das eigene Programm vermarkten. Als Abgeordneter einer Regierungspartei bringt man in Verhandlungen zwar die eigene Position ein und artikuliert sie auch immer wieder öffentlich, aber man muss auch die Fähigkeit haben, Kompromisse zu erklären und dahinterstehen zu können.

Neos-Staatssekretär Sepp Schellhorn tut sich mit dieser Umstellung möglicherweise etwas schwerer – Stichwort Audi A8 und NS-Vergleich. Ist der Wut-Wirt gemacht für die Rolle als Regierungspolitiker?
Gasser: Sepp bringt eine riesige Erfahrung als Unternehmer in die Bundesregierung und das unterscheidet ihn massiv von anderen Regierungsmitgliedern: Die Authentizität, aus der Praxis aufzeigen zu können, wo unternehmerischem, wirtschaftlichem Handeln Steine in den Weg gelegt werden. Ich bin davon überzeugt, dass er in den nächsten Monaten viele dieser Steine aus dem Weg räumen wird und im Herbst die ersten Ergebnisse liefert.
Bislang sieht man noch wenig Ergebnisse von deregulierenden Maßnahmen.
Gasser: Ich möchte es an einem konkreten Beispiel festmachen: Entbürokratisierung muss in jedem Ministerium selbst umgesetzt werden und Neos-Bildungsminister Christoph Wiederkehr hat eine Initiative gestartet, um Auflagen und Meldepflichten im Schulalltag aus dem Weg zu räumen. Erste Erleichterungen sollten schon mit Anfang des neuen Schuljahres spürbar sein. Sepp kann nicht jede bürokratische Hürde selbst aus dem Weg räumen – aber wir werden alles daran setzen, dass der Reformfunke, den wir entfacht haben, nicht wieder erstickt wird, beispielsweise in den Ländern.
In der Vorarlberger Landesregierung schaut jedes Regierungsmitglied im eigenen Ressort nach Entlastungsmöglichkeiten, einen designierten Landesrat für Bürokratieabbau gibt es nicht.
Gasser: Das Entscheidende ist, dass es einen Antreiber braucht, der diese Themen in den anderen Ministerien vorantreiben kann. Das Staatssekreatariat sammelt einerseits Input, wo diese Hürden liegen und wie man sie abbauen kann. Andererseits sucht es das Gespräch mit den jeweiligen Ministern. Es ist eine gewisse Konfrontationsposition.

Neos-Außenministerin Beate Meinl-Reisinger steht ob ihres Kurswechsels in der Israel-Politik im Mittelpunkt. Ex-Nationalratspräsident Sobotka kritisierte ihre Unterzeichnung des Protestbriefs als „Unterstützung der Hamas“. Wie antworten Sie darauf?
Gasser: Beate Meinl-Reisinger ist ganz klar, dass die Hamas eine Terrororganisation ist, dass die Entführungen am 7. Oktober ein Terrorangriff waren und dass die Geiseln frei gehören, um den Konflikt am schnellsten zu beenden. Aber in jedem bewaffneten Konflikt sind gewisse völkerrechtliche Grundsätze einzuhalten. Darauf zu pochen, ist in unserem historischen Interesse wichtig. Das ist alles andere als eine Legitimation einer Terrororganisation, sondern die Berücksichtigung und Achtung von internationalem Recht.
Im ORF kündigte Meinl-Reisinger eine Pflicht-Sommerschule für außerordentliche Schüler an. Haben Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen kein Recht auf neun Wochen Sommerferien?
Gasser: Wir müssen klar Position beziehen, wie Integration am besten funktioniert. Die Sommerschule wird nicht in dem Ausmaß angenommen, wie es notwendig wäre. Die Realität ist leider zu oft, dass diese Kinder neun Wochen lang kein einziges Wort Deutsch sprechen und das, was man mühevoll über das Schuljahr erarbeitet hat, kontinuierlich verloren geht. Diese Verpflichtung zeigt, dass wir Integrationspolitik ernst nehmen.
Sie sprachen sich kürzlich für eine Anhebung des Pensionsantrittsalters aus. Dabei gelten Menschen über 50 Jahren als schwer vermittelbar auf dem Arbeitsmarkt. Übt man auf diese Menschen so noch mehr Druck aus?
Gasser: Die Arbeitslosenquote der Über-50-Jährigen in Österreich ist ungefähr im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung. Wir müssen uns natürlich überlegen, wie wir ältere Menschen über 50 länger in Beschäftigung halten können. Aber ich verwehre mich dagegen, dieses arbeitsmarktpolitische Thema als Argument zu nehmen, um nicht über das Pensionsantrittsalter zu sprechen. Die Finanzierbarkeit des Systems ist nur gegeben, wenn die jungen Berufstätigen immer mehr ins System einzahlen, aber nicht das Gleiche herauskriegen. Die Ehrlichkeit, diese Schieflage anzusprechen, haben offensichtlich nur wir Neos. Wir haben mit ersten Gesetzesbeschlüssen Einschränkungen bei Frühpensionierungsmöglichkeiten vorgenommen. In den Zahlen sehen wir, dass ein Großteil der Menschen nicht bis 65 arbeitet, weil es großzügige Möglichkeiten auf Frühpensionierungen gibt. In Zukunft wird nicht jeder bis 67 arbeiten müssen, aber bestimmte Frühpensionierungsmöglichkeiten können eben nicht mehr mit 60, sondern mit 62 oder 64 in Anspruch genommen werden.

Ihre Fraktionskollegen Yannick Shetty und Henrike Brandstötter reisten mit anderen europäischen Abgeordneten im Juni zur verbotenen Pride-Parade nach Budapest. Verbessert diese Aktion die Situation für queere Menschen in Ungarn oder ist das Symbolpolitik?
Gasser: Das war aus zweierlei Sicht ein wichtiges Zeichen: Erstens, dass in Europa Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt – schlussendlich das, was eine Pride darstellen soll – in Europa Platz haben muss. Zweitens zeigt es jungen Leuten in Ungarn: Ihr seid nicht allein und es ist okay, sich so zu zeigen, wie man ist.
Auch in weniger autokratischen Ländern gibt es Widerstand gegen die Pride-Parade. In Teilen Deutschlands finden Gegendemonstrationen statt, Österreich sind drei Personen angeklagt, die mutmaßlich Anschläge auf die Wiener Pride geplant haben sollen. Wie kann man die Sicherheit queerer Menschen gewährleisten und dem Hass Einhalt gebieten?
Gasser: Das Regierungsabkommen hat gute Antworten dafür gefunden. Es ist das erste Regierungsabkommen, in dem LGBTQ als Thema ein eigenes Kapitel bekommen hat. Ein wesentlicher Kern davon ist der nationale Aktionsplan gegen Hate Crime, der sich genau damit auseinandersetzt, wie man der LGBT-Feindlichkeit und diesen Hassverbrechen begegnet. Diese Antworten sind gruppenspezifisch, weil wir wissen, dass unterschiedliche Gruppen gegen queere Menschen mobilisieren – einerseits politisch motiviert, andererseits auch kulturell bzw. religiös motiviert. Ich bin zuversichtlich, dass wir rasch in die Umsetzung kommen können.
Zur person
Johannes Gasser (* 5. April 1991 in Bregenz) ist seit 2024 Abgeordneter der Neos im Nationalrat, wo er Fraktionssprecher für Arbeit und Soziales ist. Zuvor saß der studierte Volks- und Politikwissenschaftler für die Neos fünf Jahre lang im Vorarlberger Landtag, wo er 2023 von Sabine Scheffknecht das Amt des Klubobmanns übernahm. 2010 outete sich der Bregenzerwälder als homosexuell.