Strolz und der Rhythmus des Lebens

Hinter Olympiasieger Johannes Strolz liegt ein Winter, in dem er mit viel Geduld den Weg zurück in die absolute Weltspitze schaffte. Bei einem Treffen bei sich in Warth entwickelte sich ein spannendes Gespräch.
Johannes Stolz stapft vor dem Haus Hubertus in Warth, seinem Elternhaus, durch den Schnee zum Hauseingang, als das NEUE-Team vorfährt. Es ist Punkt 7.45 Uhr. Der Skirennläufer lächelt und sagt augenzwinkernd: „Jetzt werden es doch Schneebilder“. Die Begrüßung ist eine humorvolle Replik auf das Vorgespräch einige Tage davor, bei dem, wohlgemerkt noch vor der Winterrückkehr, der gemeinsame Tenor war, dass Ende April Fahrtszenen von Skirennen eine eher abschreckende Bebilderung für den geplanten Artikel wären. Und dass man sich deshalb in Warth für das verabredete Gespräch trifft. Wenige Augenblicke nach der Begrüßung hat Strolz am großen Tisch im Eingangsbereich seines Elternhauses Platz genommen – und damit just dort, wo seine Familie vor etwas mehr als zwei Jahren seine olympischen Erfolge gefeiert hat.

Sogleich stößt auch Mama Birgit Strolz zur Runde und bietet Kaffee und Tee an. „Der Hubsi“, sagt sie lachend, „ist gerade im Stall, aber den braucht ihr für das Gespräch eh nicht?“ Nein, obwohl erwartbar ist, dass das Gespräch bestimmt auch auf den ersten Olympiasieger der Familie fallen wird, dessen Medaillen übrigens unmittelbar neben dem besagten großen Tisch hinter einer gesicherten Vitrine andächtig glänzen.
Am Punkt
Mit Johannes Strolz ein Gespräch zu führen, heißt, sofort am Punkt zu sein. Der 31-Jährige ist einer, der sogleich auf ein Thema in aller Tiefe einsteigt. Hinter dem Head-Läufer liegt ein Winter, in dem er einen großen Schritt nach vorne gemacht hat. Auch wenn das auf den ersten Blick nicht so wirkt. Strolz hat sich im Weltcup konstant unter den Top 20 klassiert und hatte am Saisonende mit Platz vier und Platz zehn zwei Highlights, die ihn in der Startliste wieder viel weiter nach vorne brachten. „Nach der schwierigen Saison 2022/23 mit den vielen Ausfällen und dem Rückfall in der Startliste war wichtig für mich, wieder viel stabiler zu fahren. Das ist mir gelungen. Wenn man mir vor dem Winter diesen Saisonverlauf angeboten hätte, wäre ich ohne zu zögern einverstanden gewesen.“
Kleine Schritte
Schließlich beendete der Slalomspezialist den Weltcupwinter auf Platz 13 in der Slalom-Wertung, in seinem längst legendären Olympiawinter 2021/22, das nur zur Einordnung, kam der Warther auf Platz 11 im Slalomweltcup. Doch es wäre nicht Strolz, wenn der BTV-Markenbotschafter nicht sogleich seine Saisonanalyse konkretisieren würde. „Es war im Verlauf der Saison natürlich nicht einfach, mich mit den kleinen Schritten zufriedenzugeben. Aber ich war fast dazu gezwungen, weil ich eben im Jahr davor so selten ins Ziel gekommen bin.“
Risikolos Tempo
Strolz schied im Winter 2022/23 in sechs von neun Torläufen aus. Er verpasste dadurch das Weltcup-Finale und ging am Saisonende mit Startnummer 27 in sein letztes Rennen. Darum also wäre es unvernünftig vom zweifachen Olympiasieger gewesen, im Winter 2023/24 auf Teufel komm raus zu attackieren. Doch wie macht man das eigentlich – auf Angriff zu fahren und doch nicht ans Limit gehen?
Es ist eine Frage, die Strolz zum Lächeln bringt. Nach ein paar Momenten der Reflexion sagt er: „Du musst noch genauer besichtigen als ohnehin schon, weil du herausfinden musst, an welchen Stellen du relativ risikolos Tempo machen kannst und wo du etwas mehr Platz zu den Toren lassen solltest“.
Alles Gefühlssache
Jetzt schweift der Blick von Strolz ab, es wirkt, als ob er gedanklich gerade in Kitzbühel am Ganslernhang oder auf der Planai in Schladming ein paar Schwünge fährt – und sagt dann, als er wieder im Hier und Jetzt ankommt: „Das Wichtigste ist, dass du dir den Lauf beim Besichtigten einprägst, vor allem die entscheidenden Stellen. Danach musst du dich auf dein Gefühl verlassen. Denn wenn du unter der Fahrt zu viel nachdenkst, statt den Ski laufen zu lassen, dann machst du erst recht Fehler. Skifahren ist Gefühlssache.“
Und wie es bei Gesprächen mit Strolz oft so ist, kehrt der Polizeisportler und Landwirt nun zum Ausgangsthema zurück; und schließt somit den Kreis. „Ein sehr spezielles Rennen war der Slalom in Chamonix. Mir fehlten als 14. nicht mal drei Zehntel auf die Top Fünf. Damals war ich mir sehr sicher, dass diese paar Zehntel drin gewesen wären. Deshalb wollte ich danach eigentlich wieder mehr riskieren. Diese Strategie der kleinen Schritte erschien mir nach dem Erlebnis von Chamonix plötzlich zu langatmig.“

Geduld zahlt sich aus
Seine Trainer rieten ihm jedoch zu diesem Zeitpunkt, weiter geduldig zu bleiben, um nicht wieder in das Muster der Vorsaison zu verfallen, als er mit der Brechstange Top-Platzierungen erzwingen wollte und deshalb Ausfall um Ausfall produzierte. Dieses Mal machte es Strolz besser. Er wartete auf das Rennen, in dem er wieder mit einer Leichtigkeit ans Limit gehen konnte – Anfang März beim Slalom in Aspen war es dann so weit: Der Kombinations-Olympiasieger fuhr mit einer entfesselten Fahrt im zweiten Lauf auf Platz vier. Es war ein Lauf, auf den er fast zwei Winter lang gewartet hatte. „Das Rennen war eine Belohnung, und eine Befreiung für mich.“
Was die Frage aufwirft, welche Bedeutung für ihn ganz allgemein der sportliche Erfolg hat: Er, der jahrelang darum kämpfte, sich im Weltcup zu etablieren, im Sommer 2021 aus dem ÖSV-Kader flog, sich anschließend auf eigene Kosten auf den Olympiawinter 2021/22 vorbereitete und dann den filmreifen Aufstieg zum Superstar machte. Am Anfang stand der Slalom-Sieg in Adelboden im Jänner 2022. Es folgte mit Platz fünf in Kitzbühel die Bestätigung und schließlich avancierte er bei den Spielen in Peking mit seinen Goldmedaillen in der Kombination und dem Mannschaftsbewerb sowie der Silbermedaille im Slalom zum gefeierten Nationalhelden. Diese Frage nach der Wertigkeit von Erfolg ist dann just der Moment, da sich der 31-Jährige auf seinen Vater Hubert Strolz bezieht.
Stellenwert des Erfolgs
„Als ich mit 15 Jahren im Jugendkader war und die ersten FIS-Rennen gefahren bin, bin ich auf einen Artikel gestoßen, in dem Athleten die Frage gestellt wurde, wie viele Lebenstage sie für einen Olympiasieg eintauschen würden. Ich fand die Frage spannend. Deshalb habe ich sie ein paar Tage später meinem Papa gestellt. Ich dachte, er würde lange überlegen und abwägen, stattdessen antwortete er wie aus der Pistole geschossen: keinen einzigen Tag. Das war ein Aha-Erlebnis, das mir geholfen hat, den Stellenwert von Erfolg einzuordnen.“
Wieder wird Strolz ganz still. Sein Blick, seine kauernde Körperhaltung lassen geradezu mit Händen greifen, dass sich der Wintersportler in sich zurückgezogen hat und dabei ist, sich auf die inneren Bilder einzulassen, die gerade in ihm aufsteigen. Die Frage, ob er denn manchmal seine Olympiamedaillen betrachten würde, hilft ihm dann dabei, seine Eindrücke zu kanalisieren. „Nein, die Medaillen nutze ich nicht zur Motivation, aber manchmal schaue ich mir meinen Sieglauf von Adelboden oder meine Olympiafahrten an.“ Strolz lacht lauf auf, schüttelt den Kopf. „Eigentlich war ich in diesen Rennen über dem Limit, gerade in Anbetracht, was speziell in Adelboden für mich auf dem Spiel stand. Ich war damals mitunter einen Ausfall vom Ende meiner Karriere entfernt.“ Nun greift Strolz seinen Gedanken von vorhin neu auf: „Man muss vorsichtig sein beim Anschauen alter Rennen, weil die Gefahr groß ist, dass man etwas nachhängt, das vorbei ist.“
Vorbilder
Das berühmte Franz-Klammer-Zitat, dass der Skikaiser gerne über den Tag seines Olympiasiegs spricht, weil er das Rennen immer gewinnt, nimmt dem nun noch doch etwas bedeutungsschwangeren Augenblick die Schwere. Das kollektive Lachen bringt die Leichtigkeit zurück. Danach erklärt Strolz: „Nach meinem Weltcupsieg in Adelboden hat mein Trainer, der ebenfalls Landwirt ist, zu mir gesagt: Schau, dass du daheim in den Stall kommst. Dann wirst du sehen, dass es den Kühen ziemlich egal ist, ob du Erster oder Zwanzigster geworden bist, die müssen gemolken werden, brauchen Futter und Pflege. Der Rhythmus des Lebens geht weiter, ganz egal, wie schnell du auf Ski den Berg hinunterfährst.“

Das Gespräch zieht nun immer weitere Kreise, Strolz erzählt, was ihn an Muhammad Ali und Niki Lauda so fasziniert. An Formel-1-Weltmeister Niki Nazionale beeindruckt den Walser, wie er sich gegen die Widerstände in seiner Familie durchgesetzt hat und es auf eigene Faust in die Formel 1 schaffte. „Lauda war einfach ein knochenharter Typ. Der hat gesagt, was er sich gedacht hat, egal, wer vor ihm gestanden ist.“
Ein Kämpfer
Nicht zuletzt beeindruckt Strolz, wie sich Lauda nach seinem Feuerunfall zurückgekämpft hat. An Ali, und das ist scheinbar ein Widerspruch zur Wesensart von Strolz, gefällt dem Warther, wie selbstbewusst der Box-Champion aufgetreten ist. „Er hat gesagt: I am the Greatest, ich bin der Größte, was ich, wenn ich der Allerbeste wäre, so nie sagen würde. Aber Ali hat es nicht aus einer Selbstüberschätzung oder einer Arroganz heraus gesagt, sondern einfach als Feststellung. Er war der Beste, und das wusste er auch. In einem Kampf ist er mal in 10 Sekunden 21 Schlägen ausgewichen. Vor ihm stand ein Gegner, der ihn verprügeln wollte, was ihm völlig egal war, weil er das Vertrauen in sich selbst hatte. Und genau das imponiert mir so an ihm.“ Was fast schon zur komischen Weisheit führt: Sag’ mir, wer deine Vorbilder sind, und ich sage dir, wer du bist.
Strolz ist ein Kämpfer. Er ist dabei kein Ali, gut, wer ist das schon, aber erst recht auch kein geschlagener Hund. Der Head-Läufer hat es im zurückliegenden Winter mit 31 Jahren gewagt, den Sprung in die Spezialabfahrt zu machen – und war dabei bei seinen drei Weltcupstarts nie weiter als 83 Hundertstel von Weltcuppunkten entfernt. Im Slalom hat sich Strolz zurück unter die Top 15 gekämpft und ist damit vor der kommenden Heim-WM-Saison in der Ausgangslage, wieder voll anzugreifen. Strolz will bei der WM in Saalbach kommenden Februar am Start stehen. Er weiß, dass das schwer genug wird, sagt aber auch: „Wenn ich es nach Saalbach schaffe, dann reicht es mir nicht, dabei zu sein.“ Der Olympiasieger will zweifelsohne an seine Erfolge von 2022 anknüpfen.
Dualität
Ja, Johannes Strolz ist einer, der zwischen zwei Welten pendelt. Er kann die Bedeutung des Spitzensports einschätzen, weiß, dass dabei nicht sein Wohl und Wehe als Mensch auf dem Spiel steht, und ist trotzdem fasziniert vom Wettkampf mit der Konkurrenz, vom Leben am Limit den Fliehkräften am Skihang. Diese Dualität prägt ihn, wie er zum Schluss des Beisammenseins offenbart, aber wenn er im Sommer zu Hause in Warth ist, entschleunigt sich sein Leben wieder rasch. „Dann gehe ich mit meinem Papa in den Wald Bäume schlägern, und alles ist gut.“
Und genau das macht ihn selbst zum Vorbild. Der Olympiasieger ist nämlich vor allem eins immer geblieben: Ein Mensch, der weiß, woher er kommt und wer er ist. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.