Merk: “VAR hat viel Emotionalität genommen”

Am 12. September brachte Heinz Fuchsbichler Größen aus dem Weltfußball in den Altacher Businessklub. Die NEUE traf dabei Schiedsrichterlegende Markus Merk.
Um unter Druck entscheiden zu können, braucht es meiner Meinung nach vor allem Selbstvertrauen, also das Vertrauen in seine eigene Urteilsfähigkeit, die eigene Kompetenz, und es braucht Mut. Wie sehen Sie das?
Markus Merk: Also da kann ich Ihnen zu 100 Prozent zustimmen. Natürlich muss man auch die Grundeigenschaft besitzen, überhaupt entscheiden zu wollen. Bei mir war das so. Ich war ein leidenschaftlicher Fußballer. Der 1. FC Kaiserslautern war mein Heimatverein, mein Elternhaus steht direkt hinter dem Betzenberg-Stadion, aber mich hat immer schon der Schiedsrichter und seine beiden Assistenten, damals nannten wir sie Linienrichter, interessiert und fasziniert. Dass es da drei Menschen gibt, die den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen, und ich glaube, diese Perspektive ist erst mal die Basis dessen, dass man den Schiedsrichterjob ausüben kann und vielleicht auch noch erfolgreicher ausüben kann als alle anderen.
Und auf was kommt es im Detail an, als Schiedsrichter nicht nur die Spitze zu erreichen, sondern wie Sie über viele Jahre auch an der Spitze zu bleiben?
Merk: Du musst dein Auftreten immer wieder selbst überprüfen. Das Selbstmanagement spielt für mich eine unfassbar große Rolle. Wie Sie es richtig sagen, es ist eine Sache, ein sehr guter Entscheider zu werden, aber eine ganz andere, das auch zu bleiben. Du musst selbstkritisch sein und auch immer bleiben. Es braucht den Willen, bei mir war das auf jeden Fall so, sich immer noch weiter zu verbessern und wenn möglich nicht nur im Fußball bei jedem Spiel, sondern im Leben, an jedem Tag, irgendwas mitzunehmen und zu lernen.
Die Veranstaltung in Altach war ein Brückenschlag zwischen Wirtschaft und Sport. Im Wissen, wie komplex die Frage ist: Was können Sie als ehemaliger Weltschiedsrichter den Führungskräften an die Hand geben, wie man führt und entscheidet?
Merk: Genau die Komplexität macht das Thema so spannend. Ich habe meinen Vortrag in Altach auf eine knappe Stunde zusammengekürzt, eigentlich wäre das ein Wochen-Seminar. Es gibt beim Führen ja so viele Faktoren. Bleiben wir beim Punkt des Selbstmanagements: Was treibt dich an? Wie dynamisch und aktiv willst du im Leben sein? Hast du den Willen, Entscheidungen zu treffen und damit den Mut, Verantwortung zu übernehmen? Trägst du in dir eine Begeisterung für das, was du tust, also identifizierst du dich damit? Das ist erst mal eine Basis von so vielen intrinsischen Faktoren, die im Alltag für jeden Entscheider eine große Rolle spielen und ihn ausmachen. Aufbauend auf dieser Basis kommt das hinzu, was in jedem Wirtschaftsbereich unterschiedlich sein kann, abhängig von den Eigenheiten der Branche. Wobei es bei aller Unterschiedlichkeit unfassbar viele Parallelen zwischen dem Schiedsrichterwesen und den eigentlich so gegensätzlichen beruflichen Entscheidungs- und Lebenswelten gibt. Wir werden letztendlich alle an unseren Entscheidungen, und zwar an der Richtigkeit, gemessen. Wenngleich ich viel lieber den Begriff der sicheren Entscheidung verwende. Da fragen sich vielleicht viele, wieso sagt er sichere und nicht die richtige Entscheidung? Weil richtig ist nur dort möglich, wo es Schwarz-Weiß-Entscheidungen gibt. Dort, wo Dinge reglementiert sind – im Leben und auf dem Spielfeld. Aber bei der Masse der Entscheidungen, die wir im Leben zu treffen haben, bewegen wir uns irgendwo in einer Grauzone. Und da gilt: Wie schaffe ich es, in dieser Grauzone, in meiner Entscheidungswelt besser zu sein als alle anderen? Das funktioniert natürlich über das Tool des Managements und über die Kommunikation. Das klingt jetzt sehr theoretisch, aber auf dem Spielfeld war ich der Praktiker.

Hat der VAR die Schiedsrichter entscheidungsfreudiger gemacht oder nicht doch eher abwartender? Mein Eindruck ist, dass viele Spielleiter mittlerweile die Spielleitung aus der Hand geben und der VAR längst ein Oberschiedsrichter ist.
Merk: Das ist eine sehr gute Formulierung, ich kann Ihnen da nur recht geben – ich sage das seit vielen Jahren und habe das schon während meiner Zeit als Experte bei Sky und im türkischen Fernsehen immer wieder angesprochen: Es darf nicht passieren, dass der Schiedsrichter seine Kernkompetenz, nämlich Entscheidungen auf dem Spielfeld zu treffen, mehr und mehr vernachlässigt und abgibt. Doch das ist genau das, was wir insgesamt sehen. Natürlich gibt es unfassbar viele Entscheidungen, bei denen der VAR den Schiedsrichter korrigiert und richtiggestellt hat. Wenn man aber die Zeit vor VAR und jetzt mit dem VAR gegenüberstellt, wird man feststellen, dass 90 Prozent der Entscheidungen, die heute von einem VAR getroffen oder korrigiert werden, davor auf dem Spielfeld entschieden wurden; und meistens sogar richtig entschieden wurden. Das relativiert die Statistiken, die dem VAR eine hohe Richtigkeit ausstellen. Es ist im Gegenteil so, dass die Subjektivität einfach nur auf einer anderen Ebene stattfindet. Die Bilder, die wir in Zeitlupe nur ausschnittsweise sehen, suggerieren uns, dass die Entscheidung, die über den VAR getroffen wurde, die richtigere ist als die, die auf dem Spielfeld getroffen wurde – aber dabei wird außer acht gelassen, dass auf dem Feld eben viele Entscheidungen gar nicht mehr getroffen werden. Der VAR hat den Fußball gravierend verändert. Ich war eigentlich mit der Erste, der um 2007 herum über die Einführung technischer Hilfsmittel öffentlich nachgedacht hat, was damals mit viel Kritik behaftet war, weil man sagte, der VAR wird bei uns im Fußball nie kommen. Er kam schneller als gedacht.

Meine Meinung ist: Es war grundsätzlich richtig, den VAR einzuführen, aber er wird völlig falsch angewendet.
Merk: Es wurden Parameter festgelegt, die meiner Meinung nach von Anfang an zu wenig geprüft wurden. 2016/17 war das, glaube ich, da bekamen zehn Nationalverbände die Vorgabe, den VAR zu testen, aber es waren immer die gleichen Vorgaben. Beim VAR hat man zum Beispiel ein Challenge-Recht, wie es in anderen Sportarten üblich ist, überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Ich frage mich: Warum? Weil wenn wir von Gerechtigkeit sprechen, sind die Betroffenen eigentlich immer die, die gefragt werden sollen. So verlagert man die Entscheidungsebene von Schiedsrichtern zu Schiedsrichtern. Man sequenziert Bilder, die im Originalablauf anders aussehen.
Und schafft damit eine andere Wirklichkeit. Zeitlupe, Vergrößerung, die Spielsituation wird eigentlich fast ausgeblendet.
Merk: Zu unserer Zeit hast du dich natürlich auch mit deinen Spielszenen und das in Zeitlupe beschäftigt. Das war natürlich die persönliche Lehrarbeit.
Aber eben hinterher bei der Aufarbeitung.
Merk: Genau, du hast die Szenen hin und her gespielt, das gehörte zur Nachbereitung dazu. Aber ich habe schon damals festgestellt, dass diese verlangsamten und stark vergrößerten Ausschnitte dann ein anderes Bild, eine andere Stimmung ergeben. Der VAR wird an diesem Bild gemessen, es heißt, der hat ihn doch irgendwo getroffen. Doch nicht jede Berührung muss unbedingt auch ein Foul sein. So, wie der VAR aktuell gehandhabt wird, wird dem Fußball extrem viel an Emotionalität genommen – im Denken, man könnte die Entscheidungsfindung damit perfektionieren. Aber schon früher waren die Schiedsrichter diejenigen mit den wenigsten Fehlern auf dem Spielfeld. Und ohne Fehler geht jedes Spiel 0:0 aus. Es gibt natürlich die faktischen Entscheidungen, Abseits ja oder nein, die sind mit einer kalibrierten Linie klar festzulegen. Da sprechen wir von Fakten, wenngleich ich auch über diese Handhabung nicht glücklich bin. Aber bei den vielen subjektiven Entscheidungen, war es ein Foul, war es ein Elfmeter ja oder nein, da gibt es eine große Grauzone, wo der VAR nicht zur Verbesserung beisteuert. Wir bekommen also erstens durch den VAR andere Bilder. Und zweitens ist es so, dass die Kernkompetenz des Schiedsrichters auf dem Spielfeld zu entscheiden, extrem nachgelassen hat. Und das ist das Fazit und das Betrübliche an dem Ganzen. Wir müssen vom Schiedsrichter die Entscheidungsfindung als Kernkompetenz einfordern. Denn er ist der Spielleiter, und nicht der Videoassistent, die Worte beschreiben ja die Rollenverteilung: Der eine leitet, der andere assistiert. Sonst müssen wir die Jobbezeichnungen umdrehen.
Zumal ja weiterhin unerklärbare Fehlentscheidungen passieren: Wie das Handspiel von Marc Cucurella bei der EM gegen Deutschland, wie dieses Handspiel bei einer Videoüberprüfung kein Elfmeter sein konnte, ist nicht vermittelbar. Meiner Meinung nach ist der Fußball mit dem VAR nicht signifikant gerechter geworden.
Merk: Das ist ein Paradebeispiel aus den letzten Jahren. Natürlich ist es zuallererst schwer zu verstehen, dass das ein Schiedsrichter nicht sieht, nur, solche Szenen wirst du immer finden. Aber es ist schon unglaublich, dass man eine solche Entscheidung trotz technischer Hilfsmittel nicht korrigiert. Da hätte der Schiedsrichter eine Assistenz benötigt. Die Grundidee war ja, zumindest bei den klaren Entscheidungen, mit dem VAR eine hundertprozentige Gerechtigkeit zu erlangen. Und das ist eben nicht möglich. Zumal, noch mal wiederholt, die Grauzone der Entscheidungen sehr groß ist, das übersehen viele. Viele denken, im Fußball gibt es ja ein Regelwerk, alles ist reglementiert. Nein, und das ist das, was ich am Anfang gesagt habe. Dieses Geschick des Schiedsrichters, sich in dieser Grauzone zu bewegen, die Menschen für dich und deine Entscheidungen zu gewinnen – das ist die Kunst und macht die Besten aus. Dass wenn du unten im Stadion stehst, alle sagen, auch wenn ich mit ihm nicht einverstanden bin, aber ich glaube ihm, das ist ein guter Typ.
Nächsten Sonntag: Merk über sein berühmtestes Spiel und Autorität auf dem Platz.
Markus Merk
Geboren am: 15. März 1962 in Kaiserslautern (D)
Schiedsrichter: 1988–2008 national, 1992–2007 FIFA-Schiedsrichter
Auswahl Einsätze: Deutsche Bundesliga: 338 Spiele; Champions League: 49 Spiele; WM: 5 Spiele; EM: 6 Spiele; Olympia: 2 Spiele.
Endspiele: DFB-Pokal 1993, Europapokal der Pokalsieger 1997, Champions League 2003; EM 2004.
Auszeichnungen: Weltschiedsrichter des Jahrzehnts (2011), dreifacher Weltschiedsrichter (2004, 2005,2007), zweitbester Schiedsrichter der Geschichte (2023), siebenfacher Schiedsrichter des Jahres in Deutschland.