Möglich machen, was früher selbstverständlich war

Interview. Immer mehr Menschen sind im Alter auf sich gestellt. Gründer Gernot Jochum-Müller erklärt, wie man mit „Zeitpolster“ anderen helfen und gleichzeitig für sich selbst vorsorgen kann.
Was ist Zeitpolster?
Gernot Jochum-Müller: Im Betreuungsbereich gibt es viele Menschen – ältere Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderung –, die Unterstützung im Alltag brauchen. Fast jeder hat vielleicht eine Stunde oder zwei pro Woche Zeit, in der er sich um jemand anderen kümmert. Das bedeutet, jeder kann einen Beitrag leisten. Dabei macht man etwas, das man selbst gerne tut. Man hilft jemandem, erhält dafür keine Bezahlung, sondern eine Zeitgutschrift. Diese spart man für das eigene Alter an und kann sie einlösen, wenn man selbst Betreuung benötigt. Zeitpolster verbindet also Helfen und Vorsorgen. Dabei geht es um alltägliche Dinge. Sobald eine pflegerische Ausbildung erforderlich ist, ist das ausgeschlossen. Pflege ist eine professionelle Aufgabe, die von ausgebildetem Personal übernommen werden muss. Aber in vielen Fällen benötigen Menschen noch keine Pflege, sondern einfache Unterstützung: Wer hilft mir beim Einkaufen? Wer fährt mich irgendwohin? Wer erklärt mir, was das Amt oder der Arzt geschrieben hat? Solche Alltagshilfen kann eigentlich jeder Nachbar übernehmen, aber wir trauen uns oft nicht mehr zu fragen und kennen uns nicht mehr. Unser Motto lautet deshalb: „Wir machen möglich, was früher selbstverständlich war.“

Ist das gerade in unserer Gesellschaft besonders wichtig, jetzt wo wir demografisch in eine Richtung gehen, in der die Menschen immer älter werden und Alterseinsamkeit eine größere Rolle spielt?
Jochum-Müller: Das ist ein wichtiger Punkt. Es fällt uns schwer, um Hilfe zu bitten, gerade im Alter. Weil es bedeutet, dass wir etwas, das wir früher konnten, nicht mehr können. Das ist eine psychologische Hürde.
Gleichzeitig haben wir gesellschaftliche Trends, die sich treffen: Wir werden zwar älter, aber die gesunden Jahre im Alter nehmen nicht zu. Zudem bekommen wir unsere Kinder später. Das bedeutet, dass eine Frau, die gerade in Pension geht, sich zwar um ihre Mutter kümmern kann, aber ihre eigenen Kinder stehen mitten im Berufsleben, wenn sie selbst Betreuung braucht. Hinzu kommt die zunehmende Mobilität. Familien wohnen nicht mehr auf einem gemeinsamen Grundstück oder im selben Haus, sondern sind oft weltweit verstreut. Noch nie gab es so viele Menschen in Erwerbstätigkeit wie heute. Zeit für Engagement in Gemeinde, Verein oder Kirche ist oft das Erste, woran gespart wird. Diese Trends führen dazu, dass immer mehr Menschen alleine leben, was Einsamkeit zur Folge hat. Es gibt freiwillige Einsamkeit, wenn man mit seinen Büchern oder Filmen glücklich ist. Aber es gibt auch unfreiwillige Einsamkeit, die belastet. Diese kann sogar krank machen. Studien zeigen, dass Einsamkeit körperlich so schädlich sein kann wie Rauchen.
Wird der Pflegebereich zu früh involviert?
Jochum-Müller: Eigentlich eher zu spät. Eine gut organisierte Betreuung kann dazu beitragen, dass professionelle Pflege erst später notwendig wird.
Ein Beispiel: Wenn einige Menschen ein Jahr später ins Altersheim gehen, können in der Betreuung mehr Ressourcen organisiert werden. Die verschiedenen Modelle sind unterschiedlich kostenintensiv. Heute brauchen wir oft die teureren, weil wir vorher zu wenig organisieren. Wenn wir über die Pflegekrise sprechen, reden wir meist nur über den Anteil der professionellen Pflegekräfte, die etwa 20 Prozent der Versorgung ausmachen. Aber 80 Prozent der Pflege wird noch immer von Familien und Angehörigen geleistet. Durch die gesellschaftlichen Trends wird dieser Anteil sinken, wodurch der professionelle Bereich enorm wachsen müsste.

Ist Zeitpolster mit der Persönlichen Assistenz vergleichbar?
Jochum-Müller: Die Persönliche Assistenz ist vorrangig für Menschen mit Behinderung gedacht. Eine Person kann einfache Unterstützung leisten, ohne pflegerische Tätigkeiten zu übernehmen. In manchen Bundesländern gibt es das Modell, dass pflegende Angehörige angestellt werden. Das kann in bestimmten Situationen helfen. Allerdings gibt es dabei Regelungen, die unpraktisch sind. Eine Tochter, die ihre Mutter duscht, darf das in ihrer Freizeit tun, aber nicht in ihrer angestellten Zeit. Das zeigt die Diskrepanz zwischen formellen und informellen Betreuungsstrukturen.
Wie sieht es mit jungen Erwachsenen aus?
Jochum-Müller: Jüngere tun sich oft schwer mit dem Vorsorgegedanken. Aber manche sagen, während des Studiums habe ich Zeit und kann helfen, später habe ich Kinder und brauche selbst Unterstützung. Eine junge Mutter bringt ihren Sohn mit zur Betreuung, damit er einen Bezug zu älteren Menschen bekommt. So entstehen generationsübergreifende Beziehungen.

Wie kann man sich bei Zeitpolster engagieren?
Jochum-Müller: Das ist ganz einfach: Man registriert sich online, wird einem Team zugeordnet und erhält schon bald eine erste Anfrage. Wichtig ist, dass wir hierbei auch einen Strafregisterauszug bekommen, damit wir niemanden vermitteln, der in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.
Gibt es Zusammenarbeit mit Gemeinden oder Unternehmen?
Jochum-Müller: Wir arbeiten gerne mit Gemeinden und Unternehmen zusammen. Unternehmen können etwa Zeitgutscheine bereitstellen, um Mitarbeiterfamilien zu unterstützen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist das auch für Betriebe sinnvoll. Ein gutes soziales Angebot hält Menschen im Unternehmen.
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Wir haben auch ein neues Modell entwickelt: Zeitpolster-Gemeinde. Die erste Gemeinde in Vorarlberg, die mitmacht, ist Sulz. Die Gemeinde spricht mit dem bestehenden Zeitpolster-Team und überlegt gemeinsam, wie sie unterstützen kann: Wie finden wir Helfende? Wie informieren wir Menschen, die Betreuung brauchen? Wie vernetzen wir das mit anderen Einrichtungen? Wie machen wir das zu einem Teil der sozialen Infrastruktur? Das ist eine riesige Freude, weil die Gemeinden sehr positiv darauf reagieren. Es gibt ein echtes Interesse, diese Betreuungsform lokal zu verankern.

Wie viele Zeitpolster-Gruppen gibt es in Vorarlberg?
Jochum-Müller: Derzeit haben wir 46 Gruppen in ganz Österreich, sechs davon in Vorarlberg: in Hard, Dornbirn, im Vorderwald, im Vorderland, im Walgau und in Bludenz-Montafon. Alle unsere Teams brauchen dringend mehr Helfende. In Regionen wie dem Leiblachtal oder dem Rheindelta können jederzeit neue Gruppen gegründet werden.
Wie siehst du die Zukunft von Zeitpolster?
Jochum-Müller: In fünf bis zehn Jahren möchten wir flächendeckend in Österreich aktiv sein. Unser Ziel ist es, ein selbsttragendes System aufzubauen, das nachhaltig funktioniert und Menschen langfristig unterstützt.
Über Zeitpolster
Zeitpolster ist ein Vorsorge- und Betreuungsmodell, das auf gegenseitiger Hilfe basiert. Menschen, die Zeit erübrigen können, unterstützen andere – sei es durch Einkaufen, Begleitung oder einfache Alltagshilfen. Anstatt Geld zu erhalten, sammeln sie Zeitgutschriften, die sie später für eigene Betreuungsleistungen einlösen können, wenn sie diese benötigen.