Das Dilemma der französischen Wähler

Viele Franzosen sind im Dilemma. Sie wollen weder den amtierenden Präsidenten noch seine Herausforderin wählen.
“Weder Macron noch Le Pen”. Mit Sprühdosen haben Studenten der Sorbonne die Parole an Wände in der Pariser Universität gesprüht. In einem der historischen Hörsäle haben sich mehrere Hundert junge Leute im Halbkreis auf alten Holzbänken versammelt, ihr Absingen der “Internationale” ist bis auf die Straße zu hören. “Wir sind alle Anti-Faschisten”, skandieren sie auf Italienisch, siamo tutti antifacisti. Ein Wind von Mai 1968 weht durch das Quartier Latin in diesem April, zwischen den beiden Runden der französischen Präsidentschaftswahl. Wie schon 2017 heißt die Alternative der Stichwahl: Emmanuel Macron oder Marine Le Pen. Aber es ist nicht einfach ein Déjà-vu: Er ist nicht mehr der Hoffnungsträger, der er war, und sie nicht mehr das alte Schreckensgespenst.
Der Eingang der École Normale Supérieure, wo einst Jean-Paul Sartre studierte, ist verbarrikadiert. Streikende einer anderen Elite-Uni verteilen Flugblätter, auf denen Macron und Le Pen zwei Versionen desselben Feindbildes verkörpern. Sie wollen keine weiteren fünf Jahre eines “entfesselten Liberalismus oder eines autoritären Nationalismus erleiden”. Weder Pest noch Cholera, sagen sie, als könne man die Demokratie bestreiken. Doch in den Studentenprotesten drückt sich die Ablehnung einer als unsozial empfundenen Politik des amtierenden Präsidenten aus, die sich durch alle Generationen zieht. Nur bei den Rentnern ist Macron auf Platz eins.
Le Pen buhlt um linke Wählerschaft
Frankreichs Jugend ist ratlos oder in Rage. Fast die Hälfte der 25- bis 30-Jährigen ist gar nicht erst zur Wahl gegangen. Von den unter 25-Jährigen, die gewählt haben, stimmte ein Drittel für Jean-Luc Mélenchon, den Kandidaten mit der Krawatte so rot wie die Gesinnung. Um lediglich knapp zwei Prozent hat der Chef der France Insoumise, des “Unbeugsamen Frankreich”, den Einzug in die Stichwahl verpasst. Davon, wie sich seine 7,7 Millionen Wähler in der zweiten Runde entscheiden, hängt jetzt fast alles ab. Sie sind das Zünglein an der Waage.
Die Rechtspopulistin Le Pen buhlt nicht erst seit dieser Woche um die linke Wählerschaft. Seit Monaten inszeniert sie sich als die Kandidatin der sozial Abgehängten. “Ich will den Franzosen ihr Geld wiedergeben!” Das ist der Satz, den sie bei jeder Gelegenheit heraus hämmert. Alle, die nicht für Macron gestimmt haben, sollten nun sie wählen, rät sie. Auch Le Pen weiß, dass Macron von breiten Schichten der Bevölkerung abgelehnt wird, weil er Repräsentant jener Elite ist, die fernab ihrer Anliegen und Sorgen regiert. Dabei kann sich seine Bilanz sehen lassen. Theoretisch. Die Arbeitslosigkeit war seit 15 Jahren nicht so niedrig. Doch egal, wie viel Geld in die Wirtschaft gepumpt wurde, wie viele Studenten während des Lockdowns für einen Euro essen konnten, egal auch, dass ein Wirtschaftsnobelpreisträger Frankreich zum Pandemie-Sieger erklärt hat: Macron ist verhasst im eigenen Land.

Macron, der wegen Pandemie und Ukraine-Krieg erst verspätet in den Wahlkampf zog, hat programmatisch nicht wesentlich mehr zu bieten als Le Pen. Er macht viele Worte zu vielen Vorhaben, aber verfangen hat vor allem sein Plan, das Renteneintrittsalter auf 65 zu erhöhen. Doch kann man in Frankreich zum Präsidenten gewählt werden mit der klaren Ansage, dass man die Menschen länger arbeiten lassen will? Zwischen den Wahlgängen begibt sich Macron in den französischen Norden, in das Frankreich der Desindustrialisierung und der Desillusion. Es ist Le-Pen-Revier. Überall wird er auf die Rentenreform angesprochen. Macron nimmt schnell die Linkskurve und rudert zurück. Er könne sich auch ein Renteneintrittsalter mit 64 vorstellen, er sei nicht dogmatisch.
Wenn Marine Le Pen gefragt wird, wo sie zuerst hinfahren würde, falls sie die Wahl gewinne, sagt sie: zu den Gräbern der französischen Könige nach Saint-Denis. Sie könnte die Pariser Metro-Linie 13 nehmen, um hinzufahren. Saint-Denis, zehn Kilometer nördlich des Stadtzentrums gelegen, eine Vorstadt mit 100.000 Einwohnern, die 135 Nationalitäten angehören, ehemals rote Arbeiterstadt, heute 61 Prozent Mélenchon. Es ist ein wirklich verwirrendes Panorama: Ehe die Revolutionäre 1793 die Gräber plünderten, wurden hier alle französischen Könige bestattet und einmal im Jahr ist Saint-Denis Treffpunkt von Frankreichs Royalisten. Heute sitzen, gegenüber der Kathedrale, Cécile und Essaïd auf der Terrasse des Bistros “Le Khédive” und debattieren über ihr Dilemma: weder Macron noch Le Pen.
Le Pen als Präsidentin? Niemals.
Essaïd Zemouri, 65, Ingenieur in Rente, ist bei den französischen Grünen engagiert. Macron, den “Präsidenten der Reichen” wählen? Trotz der Wohngeldkürzungen für Studenten gleich am Anfang seiner Amtszeit? Trotz der Abschaffung der Vermögenssteuer? Trotz der “Milliarden, die er den Managern in den Rachen geworfen hat”? Und trotz einer Umweltpolitik, die er für Augenwischerei hält? Essaïd, Glatze, freundliches Gesicht, muss alle Fragen mit Ja beantworten. Er ist wütend. Aber Le Pen als Präsidentin? Niemals.