Evangeliumkommentar: „Wer ohne Sünde ist …“ – Die radikale Barmherzigkeit Jesu

In unseren wöchentlichen Evangelienkommentaren geben Geistliche, Religionslehrerinnen, Theologinnen und andere ihre Gedanken zum Sonntagsevangelium weiter. Heute mit Dominik Toplek, Pfarrer in Dornbirn.
Sonntagsevangelium
In jener Zeit ging Jesus zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?
Mit diesen Worten wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie das gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.
Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr! Johannes 8,1-11

„Wer ohne Sünde ist …“ – Die radikale Barmherzigkeit Jesu
Ich bin sehr dankbar, dass irgendjemand diese Erzählung in die Bibel aufgenommen hat. Sie fand erst Jahre später ihren Platz im Johannesevangelium. Für mich macht kaum eine andere Stelle deutlicher, was es bedeutet, wenn Jesus die Schuld anderer auf sich nimmt – und deshalb leidet.
Letzte Woche hörten wir vom Gottesbild Jesu: Mit dem Gleichnis vom barmherzigen Vater verkündet er einen gütigen, mütterlichen, geduldigen Gott. Einen, der den Menschen entgegenkommt – im wahrsten Sinn des Wortes. Und von dieser Überzeugung rückt Jesus keinen Millimeter ab. Auch nicht, wenn er damit gegen überlieferte Gottesbilder spricht und dies letztlich sein Todesurteil bedeutet.
Im Zentrum der Erzählung steht nicht nur die Ehebrecherin, sondern vor allem der Konflikt zwischen Jesus und den Schriftgelehrten. Sie wollen Jesus überführen, ihn als Gesetzesbrecher bloßstellen. Die Falle, die sie ihm stellen, ist perfide.
Die Frau hat schwer gesündigt. Ehebruch mag heute weniger dramatisch wirken – doch seine zerstörerische Kraft für Beziehungen und Vertrauen bleibt. Im Judentum zur Zeit Jesu stand darauf die Todesstrafe. Nur das römische Recht verhinderte ihre sofortige Hinrichtung. Heute denken wir vielleicht an noch schwerere Vergehen: Kindesmissbrauch, Kriegsverbrechen, Mord. Wie schnell sind wir im Urteil. Wie groß unser Wunsch nach Strafe.
Jesus aber verkündet einen Gott, der barmherzig ist. Und dann schreibt er – vielleicht das Urteil – in den Sand. Damit sagt er: Es steht uns nicht zu, über andere zu richten. Und weil er damit uns allen einen Spiegel vorhält, wird er gehasst. Dabei verharmlost er die Schuld der Frau nicht. Er sagt nicht: „Nicht so schlimm.“ Aber er steht zu einem Gott, der die Sünderin liebt und ihr vergibt – wenn sie diese Vergebung annimmt und ihr Leben ändert. Und diese Zusage ist nicht billig: Jesus zahlt dafür mit seinem Leben. Denn in den Augen der Ankläger wird ihre Schuld zu seiner.
Wenn wir also selbst einmal in der Rolle der Frau sind – etwas schwer falsch gemacht haben – dürfen wir glauben: Gott verurteilt uns nicht. Er vergibt uns.
Und wenn wir einmal die Steinewerfer sind – und das sind wir oft genug – dann hören wir Jesu Satz:
„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“