Ein Schlinser in den Fußstapfen von Marterbauer, Lacina & Co.

Matthias Schnetzer leitet ab sofort die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien. Damit tritt der gebürtige Schlinser in die Fußstapfen von Finanzminister Markus Martenbauer. Eine Analyse der aktuell schwierigen Situation für die Republik im Interview mit der NEUE am Sonntag.
NEUE am Sonntag: Herzlichen Glückwunsch zur neuen Funktion. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Ernennung erfuhren?
Matthias Schnetzer: Vielen Dank, die neue Aufgabe erfüllt mich mit Freude, Stolz, aber auch Demut. Die Abteilung gilt seit bald 70 Jahren als ökonomische Denkfabrik der Arbeiterkammer, mit Vorgängern wie Ferdinand Lacina, Günther Chaloupek und zuletzt Markus Marterbauer. Das sind schon ordentliche Fußstapfen, aber ich habe ein hervorragendes Team voller wirtschaftswissenschaftlicher Expertise im Rücken.
NEUE am Sonntag: Sie treten die Nachfolge von Markus Marterbauer an. Inwiefern wollen Sie seine Linie fortsetzen – und wo setzen Sie neue Akzente?
Schnetzer: Markus Marterbauer ist ein herausragender Ökonom mit beeindruckendem Fachwissen über Konjunktur, Beschäftigung und Verteilung, bekannt aber vor allem für seinen unerschütterlichen Optimismus. Er war zwölf Jahre mein Chef und sehr prägend für meine eigene Entwicklung. Ich möchte neben den traditionellen Kernthemen aber noch einen stärkeren Fokus auf Klimafragen werfen und die gravierende Vermögensungleichheit in den Blick rücken.
NEUE am Sonntag: Markus Marterbauer steht vor einer Mammutaufgabe, angesichts des Budgetdefizits und einer schlechten Wirtschaftsprognose. Warum steckt Österreich in dieser Situation, was hat man in den vergangenen Jahren richtig gemacht, was verabsäumt?
Schnetzer: Es gibt mehrere Gründe für die Budgetmisere, vor allem aber die Steuersenkungen ohne Gegenfinanzierung sowie überzogene und wenig zielgerichtete Förderungen in den letzten Jahren. Das wäre in diesem Umfang nicht nötig gewesen, wenn man die Teuerungskrise etwa mit Preiseingriffen effektiv bekämpft hätte, statt sie mehr oder weniger hinzunehmen. Das hätte auch die Konjunktur und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gestützt.
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NEUE am Sonntag: Sparen trifft immer die Ärmsten. Wo sehen Sie am meisten Potenzial, um das Ruder herumzureißen?
Schnetzer: Die geplanten Kürzungen der öffentlichen Leistungen haben negative Verteilungswirkungen, sie treffen Menschen mit ohnehin niedrigen Einkommen stärker. Das hat auch der parlamentarische Budgetdienst errechnet. Diese Kritik muss sich die Bundesregierung schon gefallen lassen, dass das Budget zu stark über Ausgabenkürzungen saniert wird, statt über die Einnahmenseite einen gerechten Beitrag von den Reichsten der Gesellschaft zu holen. Immerhin wurden höhere Steuern auf die exorbitanten Gewinne von Banken und Energiekonzernen sowie für Privatstiftungen beschlossen.
NEUE am Sonntag: Die Ungleichheitsforschung ist eines Ihrer Spezialgebiete. Welche konkreten politischen Maßnahmen leiten Sie aus Ihrer Forschung ab? Würden Sie sich eine von „oben“ regulierte Umverteilung wünschen? Und nach welchen Schlüsseln würde diese Umverteilung vonstattengehen?
Schnetzer: Ich halte es als das größte Versäumnis der Verteilungspolitik, den Fokus auf Arbeitseinkommen statt auf hohe Vermögen zu legen. Österreich ist eines der Länder mit der höchsten Besteuerung von Arbeit und der geringsten von Vermögen. Diese Schieflage zu reduzieren, wäre meines Erachtens ein wichtiger Schritt für eine gerechte Abgabenstruktur. Eine Steuer auf große Millionenvermögen wäre ein Anfang, dann wäre die Abschaffung der kalten Progression locker gegenfinanziert.
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NEUE am Sonntag: Sie leben und arbeiten schon lange in Wien. Wenn es ums Thema gerechte Steuerverteilung und Abgabenlast geht: Wie beurteilen Sie das Ost-West-Gefälle, wenn es um Abgaben, Wohn- und Lohnkosten oder den Wohlstand geht?
Schnetzer: Mir scheint, das Gefälle beim Wohlstand verläuft weniger zwischen Osten und Westen, sondern zwischen Stadt und Land, vor allem wenn es um Mobilität, Arbeitsplätze und Infrastruktur geht. Bei den Wohnkosten sieht man allerdings tatsächlich große Unterschiede zwischen West und Ost, was auch mit den topografischen Gegebenheiten und dem begrenzten Raumangebot zusammenhängt. Aus der Ferne sehe ich im Westen einen großen Nachholbedarf an leistbaren Mietwohnungen, denn beim öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnbausektor sind Vorarlberg und Tirol die Schlusslichter.
Aus der Ferne sehe ich im Westen einen großen Nachholbedarf an leistbaren Mietwohnungen, denn beim öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnbausektor sind Vorarlberg und Tirol die Schlusslichter.
Matthias Schnetzer, AK Wien
NEUE am Sonntag: Die Vorarlberger Industrie fordert von der Politik radikale Reformen, um den Standort zu sichern. Lohnkosten, Entbürokratisierung oder sogar föderalistische Steuern sind im Gespräch. Wie beurteilen Sie solche Forderungen?
Schnetzer: Als das, was es ist: Interessenpolitik. Ein guter Wirtschaftsstandort muss nicht nur Profitinteressen, sondern auch jene der Beschäftigten und der öffentlichen Hand berücksichtigen. Ein starker Standort braucht gut ausgebildete, gesunde, sozial abgesicherte Arbeitskräfte, eine ausgebaute Infrastruktur sowie politische und rechtliche Sicherheit. Das sehen auch viele Unternehmen so, denn die Investitionsquote in Österreich liegt im EU-Vergleich im Spitzenfeld. Es gibt zweifellos viel Handlungsbedarf, aber die einfachsten Slogans sind nicht immer die besten Rezepte für das Land.
NEUE am Sonntag: Wie begegnen Sie Kritik, die der Arbeiterkammer mangelnde wirtschaftliche Objektivität vorwirft?
Schnetzer: Das nehme ich als Kompliment für unsere Arbeit. Die Arbeiterkammer vertritt die Interessen ihrer Mitglieder, also der lohnabhängigen Menschen in diesem Land, ohne die gesamtwirtschaftliche Lage aus den Augen zu verlieren. In der Wirtschaftspolitik gibt es immer auch Interessens- und Verteilungskonflikte, die wir mit vier Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rücken oft gegen eine Allianz von Konzernen und Reichen führen. Und in einigen Bereichen funktioniert die Sozialpartnerschaft noch gut und man findet gemeinsame Lösungen.
In der Wirtschaftspolitik gibt es immer auch Interessens- und Verteilungskonflikte, die wir mit vier Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Rücken oft gegen eine Allianz von Konzernen und Reichen führen.
Matthias Schnetzer, AK Wien
NEUE am Sonntag: Wenn schon sparen, dann überall. Wo könnten die Sozialpartner, die doch über beträchtliche Vermögens- oder Immobilienwerte und Rücklagen verfügen, sparen?
Schnetzer: Der große Teil der Vermögenswerte der AK sind ihre österreichweit rund 100 Beratungszentren, um möglichst nahe, rasch und persönlich Rechtshilfe und Beratungen zu bieten. Wer hier nach Kürzungen ruft, will in Wirklichkeit die Möglichkeiten für Beschäftigte beschränken, sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Und ja, die AK bildet auch Rücklagen, weil diese erstens gesetzlich verpflichtend sind und zweitens zukünftige Investitionen in die Serviceleistungen ermöglichen.
NEUE am Sonntag: Gibt es internationale Vorbilder, an denen Sie sich persönlich orientieren? Und an welchen Modellen, die andere EU-Staaten praktizieren, sollte sich Österreich aus wirtschaftlicher Sicht orientieren?
Schnetzer: Wir sollten immer von den Besten lernen und uns gleichzeitig bewusst sein, dass nicht jede gute Maßnahme einfach auf Österreich übertragbar ist. In vielen Aspekten, wie Bildung oder Kinderbetreuung, sind mir skandinavische Länder ein Vorbild. Bei der Steuergerechtigkeit könnten wir von fast allen Ländern noch etwas dazulernen. Aus der Vogelperspektive spielt das österreichische Modell aber in der ersten Liga mit. Ein Blick über die Grenzen zeigt: Wir haben einen Sozialstaat und eine intakte Infrastruktur, um den uns die meisten Länder beneiden.
NEUE am Sonntag: Wie fällt ihr Blick auf das internationale Katz-und-Maus-Spiel aus, wenn sie sich die aktuelle US-Zollpolitik betrachten? Wie muss sich Europa positionieren, um nicht im internationalen Handelskrieg zum Opfer zu werden?
NEUE am Sonntag: Ein Blick aus Sicht der Arbeiterkammer – Künstliche Intelligenz, für Sie eher Chance oder Risiko?
Schnetzer: Die Weltlage ist aktuell tatsächlich von großer Instabilität geprägt. Es ist beängstigend, wie fragil das Wirtschaftssystem vor dem Hintergrund von Pandemie, geopolitischen Konflikten und erratischem Verhalten einiger Mächtiger wirkt. Ich möchte aber davor warnen, dass sich Europa in diesem Kampf um Handelsanteile seiner sozialpolitischen Errungenschaften entledigt, um preislich mit der globalen Konkurrenz mithalten zu können. Mir scheint eine High-Road-Strategie Erfolg versprechender, die auf unseren Stärken aufbaut: hoch qualifizierte Arbeitskräfte, qualitativ hochwertige Produkte, technologische Innovation und Produktivität.
Schnetzer: Auch im Wissen um die Risiken sehe ich darin eher große Chancen für die Wirtschaft und Arbeitswelt. Wir brauchen aber dringend ein faires Regelwerk, um die Interessen und Rechte von Beschäftigten und Konsumenten zu schützen.
NEUE am Sonntag: Wie beurteilen Sie die alarmierenden Zahlen am Arbeitsmarkt, wie können wir wieder vermehrt in Richtung Vollbeschäftigung lenken?
Schnetzer: Die Arbeitslosigkeit ist in der langen Rezession stark gestiegen und betrifft aktuell nahezu 300.000 Arbeitssuchende sowie weitere 80.000 Menschen in Schulungsmaßnahmen des AMS. Ich begrüße, dass die Regierung ein Beschäftigungspaket für ältere Langzeitarbeitslose plant und vorgesehene Kürzungen im AMS-Förderbudget zurücknimmt, allerdings fehlen hier immer noch Mittel für bessere Betreuung und Qualifizierung. Die wichtigste Voraussetzung ist aber, dass die Konjunktur endlich wieder in Schwung kommt, wofür es ja bereits erste Anzeichen gibt und so manche Prognose nach oben revidiert wird.
NEUE am Sonntag: Heute ist Vatertag: Wie gestaltet sich Ihr Vatersein, wie schwierig ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
Schnetzer: Ich habe in den letzten Jahren in Elternteilzeit gearbeitet, um die Betreuungsaufgaben für unsere vierjährige Tochter möglichst gleichmäßig aufzuteilen. Das wird jetzt in der Führungsrolle zugegeben schwieriger. In Österreich wird der Löwenanteil der Kinderbetreuung immer noch von Frauen geleistet, oft auch zulasten der beruflichen Karriere. Wir brauchen hier dringend einen Kulturwandel zu mehr Väterbeteiligung, den auch die Unternehmen mittragen müssen. Es gibt Länder an denen wir uns orientieren können, wie etwa Schweden.
Zur Person
Matthias Schnetzer, geboren am 20. Mai 1983 in Schlins, folgt Markus Marterbauer bei der Arbeiterkammer Wien als Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik. Der Volkswirt promovierte 2015 an der Wirtschaftsuniversität Wien mit Auszeichnung. Schnetzer wurde für seine Arbeiten zur Verteilungspolitik mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Kurt Rothschild Preis. Zudem leitet er die Zeitschrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ und wirkt in Statistikrat und Wissenschaftlichem Beirat mit. Privat ist er Vater einer Tochter, begeisterter Bergsteiger und Kletterer.
(NEUE am Sonntag)