Zuinnerst näher

In unseren wöchentlichen Evangelienkommentaren geben Geistliche, Religionslehrerinnen, Theologinnen und andere ihre Gedanken zum Sonntagsevangelium weiter. Heute mit Johannes Lampert von der Jungen Kirche Vorarlberg.
Sonntagsevangelium
Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden. Johannes 16,12-15
Zuinnerst näher
“Es gibt keine eigene Wahrheit.” Ich erinnere mich an ein Gespräch in einem Hörsaal. Der Dozent stellt diese Worte in den Raum und wartet auf Reaktionen. In einem ersten Schnauben bricht Empörung aus den Studierenden heraus. “Natürlich habe ich meine eigene Wahrheit.” “Ich lass mir doch meine Wahrheit nicht wegnehmen.” Einige verlassen stampfend den Saal, werfen dem Professor noch einen Blick zu, vielsagend unerfreulich, reagierend aus der Bewegtheit der Studientage, aus dem Nebel der sich in dieser Zeit ergibt: Aufbruch, Wohngemeinschaft, anhaltender Frühling, Revolution, Biergarten, Weltveränderung, Freiheit, Studentenjob, sozialer Druck, soziale Medien, Fassade und Individualisierung.
Ich bin leise und völlig verunsichert: Ein gescheiter Mann debattiert mit uns über die Wahrheit. Von der soll es nur eine geben. Und das, was ich für wahr halte, habe mit Wahrheit gar nichts zu tun. Das ist dann sowas wie Wahrnehmung oder empfundene Wirklichkeit. Wahrheit jedoch hat eine gänzlich andere Ausforumung, sie bewegt sich auf keiner Ebene sondern durchdringt sie. Der gescheite Mann wirkt mit seinen Worten durch unsere Oberflächen. Wir sind Studierende. Wir sind gefangen in unserem Weltentdeckenwollen, sind im Vergleich und im Wettrennen mit den Dingen, die wir gerne wissen würden. Wir sind durstig. “Es gibt keine eigene Wahrheit.” Ich werde viele Jahre brauchen, um diesen Worte näher zu kommen. Sie werden für mich Frageworte bleiben, impulsive Begleiter und die notwendigen kleinen Beben im eigenen Befindlichkeitenzirkus. Soweit jedoch bin ich jetzt: Ich habe keine eigene Wahrheit. Ich bin ein Teil. Teil der ganzen Wahrheit. Als getrenntes Wesen bleibe ich Partikel und schwebe unberührt durch die Leere. An jedem Tag, der seit diesem Hörsaalgespräch vergangen ist, suche ich nach der Auflösung meiner Wahrheitsaneignung. Ich bin also stetig versucht, mir näher zu kommen, indem ich mein Partikeldasein abschaffe. So lande ich in Teilerfolgen und grandiosem Scheitern. So höre ich resigniert auf, damit ich immer wieder von vorne anfange. Und bemerke: Diese ganze Wahrheit ist mir zuinnerst näher als ich selber imstande bin mir nahe zu sein. Ich bin Teil der Wahrheit. Sie wirkt durch mich hindurch, über mich hinaus in alle Räume und Unräume. In Zeiten und Unzeiten. Ich bin Teil der Wahrheit. Der ganzen Wahrheit. Wirklich, wahrlich: Gut zu wissen.
