Die immerwährende Neutralitätsdebatte

Seit es sie gibt, ist sie „heiß umfehdet, wild umstritten“.
Mit einer Twitter-Nachricht wollte Bundeskanzler Karl Nehammer am Montag das Thema beenden: „Österreich war neutral, ist neutral und wird auch weiterhin neutral bleiben“, ließ er wissen. „Aufforderungen oder Zurufe“ (wie zuletzt von SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried) seien unnötig.
Doch mit dieser Interpretation von höchster Stelle ist es vermutlich nicht getan. Erst am Sonntag hatte Ex-ÖVP-Klubchef Andreas Khol via „Kleine Zeitung“ laut über einen Nato-Beitritt nachgedacht, und Ex-Armeechef Günter Höfler war zuvor noch deutlicher geworden: Die Neutralität biete keinen Schutz.
Damit erleben wir nun die jüngste Auflage eines Streits, der so alt ist wie die Neutralität selbst. Denn in den 67 Jahren seit der Beschlussfassung 1955 boten sich reichlich Anlässe, um die vermeintlich „immerwährende“ Doktrin infrage zu stellen oder zumindest je nach aktueller Opportunität kräftig umzuinterpretieren.
Schon 1956 lieferte der Ungarn-Aufstand die erste Belastungsprobe. Österreich nahm trotz Neutralität Flüchtlinge auf. Damit war auch für spätere Krisen eine Weiche gestellt: Wir verstehen unsere Unparteilichkeit nicht als teilnahmsloses Wegsehen. Als 1968 die sowjetgeführten Truppen des Warschauer Pakts den Prager Frühling in der Tschechoslowakei niederwalzten, diente Österreich sogar als Relaisstation für den Widerstand.
Unübersichtliche Krisen
Hatte die Zweiteilung Europas bis 1989 noch für Übersichtlichkeit gesorgt, so wurden danach die Krisen – und damit die Anforderungen an die Neutralität – komplizierter. Anlässlich des Golfkriegs 1990 sowie der Konflikte in Bosnien und im Kosovo wurde klar, dass die völkerrechtlichen Pflichten aus der UNO-Charta Vorrang haben. Im Fall eines UNO-Mandats ist somit die Durchfuhr von Kriegsmaterial durch das neutrale Österreich zulässig.
Später wurde diese Regel flexibel zurechtgebogen, denn Überflüge durch Konfliktparteien gab es auch ohne Mandat. So etwa im Jugoslawien-Krieg, wo Österreich nur verhalten protestierte. Der Innsbrucker Historiker Michael Gehler sprach von „Neutralitätsgymnastik“. Im „Krieg gegen den Terror“ (ab 2001) flogen US-Militärmaschinen sogar erlaubterweise über Österreich: Man hielt es für ausreichend, dass die UNO die Angriffe vom 11. September verurteilt hatte.
Mit dem EU-Beitritt vereinbar?
Wichtigster Einschnitt war der EU-Beitritt 1995, der nicht ohne Neutralitätsdebatte vonstattenging. ÖVP und FPÖ sprachen von einer „leeren Formel“ und plädierten zwischendurch klar für Nato-Beitritt und Berufsheer. Die SPÖ war dagegen – die Unparteilichkeit habe sich als Konzept bewährt.
Nur die „wirtschaftliche Neutralität“ wurde aus der Verfassung gestrichen, der EU-Beitritt selbst galt als juristisch vereinbar. Das bedurfte aber einer extrem gedehnten Deutung, denn immerhin beteiligt sich Österreich via EU am Nato-Programm „Partnership for Peace“. Seit 1998 wäre es uns rechtlich auch möglich, an EU-Kampfeinsätzen teilzunehmen.
Einige Male versuchte es die ÖVP dann noch: Ein „Friedensgebot“ solle die Neutralität ersetzen, hieß es 1999 in einem Koalitionsentwurf der Partei. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sorgte 2001 für Aufsehen, als er die Neutralität gemeinsam mit Lipizzanern und Mozartkugeln als „alte Schablonen“ brandmarkte. Ab 2005 drehte die ÖVP dann bei: Man bekenne sich zu „Neutralität und aktiver Friedenspolitik“.
Ein Spielball
Bis heute gilt, dass die außenpolitisch relevante Positionierung vor allem als innenpolitischer Spielball herhalten muss. Da die Bevölkerungsmehrheit nach wie vor an der Neutralität festhält, ist jeder Reformversuch eine Schwarze-Peter-Karte. SPÖ und FPÖ sind stets bemüht, sie der ÖVP zuzuschieben, aber inhaltlich wird nicht diskutiert. Der Politologe Anton Pelinka nennt das „bequemen Populismus“. Und Nehammer hat nun klargestellt, dass ihm dieses Eisen zu heiß ist.