Allgemein

Sind Sie eigentlich privatversichert, Herr Rümmele?

22.06.2025 • 17:45 Uhr
Gesundheitsjournalist Martin Rümmele
Gesundheitspublizist und Buchautor Martin Rümmele im NEUE-Interview. Rhomberg

Der aus Vorarlberg stammende Gesundheitspublizist und Buchautor Martin Rümmele über das “Kaputtsparen” des Gesundheitswesens, Prävention und die Situation in Vorarlberg.


Erlauben Sie mir zu Beginn eine persönliche Frage: Sind Sie privatversichert?
Martin Rümmele: Nein, bin ich nicht.

Damit habe ich jetzt ehrlich gesagt nicht gerechnet. Immerhin beschäftigen Sie sich schon viele Jahre intensiv mit dem Gesundheitsbereich.
Rümmele: Ich habe großes Vertrauen ins öffentliche System. Und ich habe großes Vertrauen in die Menschen, die darin arbeiten. Das bedeutet nicht, dass ich dem privaten System misstraue. Ich glaube, die Qualität der Arbeit hängt nicht davon ab, in welchem Bereich des Systems man tätig ist.

Dann gehören Sie also nicht zu den 38 Prozent jener Österreicher, die laut Ihrem Buch eine Zusatzversicherung haben. Auch diese Zahl hat mich überrascht. Sie ist sehr hoch, wie ich finde.
Rümmele: Ja, das ist sie. Diese Zahl ist historisch gewachsen. Ein Großteil entfällt auf Sonderklasseversicherungen.

Gesundheitsjournalist Martin Rümmele
Martin Rümmele beschäftig sich seit Jahren mit dem Gesundheitssystem. Rhomberg

Ist diese Entwicklung Ausdruck eines wachsenden Misstrauens gegenüber dem solidarisch finanzierten Kassensystem?
Rümmele: Es ist sicher ein Ausdruck eines gewissen Misstrauens. Oder zumindest ein Ausdruck des Bedürfnisses vieler Menschen nach einer möglichst optimalen Versorgung, in der Hoffnung, dass sie diese durch eine Zusatzversicherung auch ­bekommen. Im Gesundheitsbereich geht es immer um Bedürfnisse.

Das Kassensystem krankt. Es gibt Aufnahmestopps in den Ordinationen, lange Wartezeiten und Nachbesetzungsschwierigkeiten. Gleichzeitig gehen viele Ärzte in Pension. Hat man hier zu lange zugesehen?
Rümmele: Die Sache ist komplex. Wenn wir die Hausärzte betrachten: In ganz Österreich gibt es derzeit knapp 4000 Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag. Vor 30 Jahren waren es etwa genauso viele. In dieser Zeit ist aber die Bevölkerung gewachsen. Und sie ist älter geworden. Zu sehen, dass das schiefgeht, war keine Raketenwissenschaft.

Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Iframely angezeigt.

Man hätte es also wissen können?
Rümmele: Man hat es gewusst. Aber unterschiedliche Akteure hatten unterschiedliche Vorstellungen, wie man damit umgehen soll. Ende der 1990er-Jahre verfolgten die Krankenkassen die Idee, das Finanzierungssystem umzubauen. Damals gab es den Krankenanstaltenfinanzierungsfonds – der hat die Spitäler auf Basis der Liegedauer finanziert. Die Folge war: Patienten lagen oft unnötig lange im Krankenhaus Dann hat man das System umgestellt auf die sogenannte leistungsbezogene Krankenanstaltenfinanzierung. Seither zahlen die Krankenkassen einen pauschalen, gedeckelten Beitrag – rund ein Drittel ihrer Einnahmen – in einen gemeinsamen Spitalstopf. Der Rest der Spitalsfinanzierung kommt von Ländern und Gemeinden.

Gesundheitsjournalist Martin Rümmele
Martin Rümmele. Rhomberg

Welches Kalkül lag dahinter?
Rümmele: Die Krankenkassen wollten durch diesen fixen Beitrag mit der Spitalsfinanzierung nichts mehr zu tun haben. Ihre Hoffnung war: Wenn möglichst viele Menschen im Spital behandelt werden, schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Ers­tens kann man den Menschen sagen, dass sie Spitzenmedizin bekommen. Und zweitens sinken im niedergelassenen Bereich die Kosten, weil man weniger Ärzte braucht. Der Mehrbedarf wird ja durch die Spitäler abgedeckt, und deren Finanzierung ist durch den Pauschalbetrag ohnehin gedeckelt.

ZTm Buch

Der aus Vorarlberg stammende Gesundheitspublizist und Buchautor Martin Rümmele beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Entwicklungen im Gesundheitswesen. Im Buch „Krank gespart“ geht Rümmele der Frage nach, was die Ursache für steigende Wartezeiten, überlastetes Personal, gesperrte Spitals- und Pflegebetten und enorme Verluste der Krankenkassen ist. Er benennt einen Trend zur Fließbandmedizin und wirtschaftlich getriebenen Optimierungsdruck, der Beschäftigte und das System ans Limit bringt, zeigt aber auch zahlreiche Auswege auf. „Krank gespart“ ist in Rümmeles Ampuls Verlag erschienen. 160 Seiten, 24,90 Euro

Aber das hat offensichtlich nicht funktioniert.
Rümmele: Auch die Spitäler beziehungsweise die Länder haben erkannt: Wenn sie von den Kassen pauschal Geld bekommen – egal, was sie tun – lohnt es sich, Patienten wieder zurück in den niedergelassenen Bereich zu schicken. Es gab absurde Situationen: Für eine OP-Freigabe etwa musste man ins Spital, dort vorbei an Labor und Radiologie zum Arzt, der stellte einen Zettel aus mit dem Hinweis, dass Labor und Bildgebung noch fehlen. Also ging man wieder hinaus, ins niedergelassene Labor und zur Radiologie – bezahlt von der Krankenkasse –, nur damit im Spital dann doch alles noch einmal gemacht wurde.

Und jetzt stößt das System an seine Grenzen?
Rümmele: Ja. Erstens wegen der demografischen Entwicklung: Es gibt mehr und immer ältere Menschen. Zweitens wegen des medizinischen Fortschritts: Immer mehr Behandlungen können ambulant erfolgen.

Was wäre die Lösung?
Rümmele: Wir brauchen eine neue Form der Primärversorgung. Das ist kein anderes Wort für mehr Hausärzte, sondern ein neues Versorgungskonzept. Primärversorgung heißt: Interdisziplinäre Teams, neue Berufsbilder, andere Strukturen. Es beginnt schon bei der Sozialarbeit. Denn die zentrale Frage ist: Was macht Menschen eigentlich krank?

In Ihrem Buch schildern Sie den Niedergang des britischen Gesundheitssystems. Ein Szenario, das auch bei uns vorstellbar ist?
Rümmele: Wenn wir ständig nur fordern, dass alles billiger und effizienter sein muss, verabschieden sich zuerst jene, die es sich leisten können, also Menschen mit besseren Gesundheitsvoraussetzungen. Wenn die Beschäftigten im System immer nur hören, dass sie zu teuer und ineffizient sind, wandern auch sie in den privaten Bereich ab. Das ist wie in jedem Unternehmen: Wenn man den Leistungsträgern dauernd erklärt, wie schlecht sie sind, gehen sie. Und dann bleibt ein ausgedünntes System zurück. Genau diese Spirale droht uns auch. Wir glauben, Medizin ist machbar wie ein industrieller Prozess. Möglichst schnell, möglichst effizient, mit einem optimierten Ressourceneinsatz. Was wir dabei vergessen, ist, dass Menschen keine Maschinen sind, die man nicht einfach so reparieren kann.

Gesundheitsjournalist Martin Rümmele
Martin Rümmele. Rhomberg

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Gesundheitsbereich ein großer Wirtschaftsmotor ist. Können Sie das bitte kurz erklären?
Rümmele: Das ist auch durch Studien belegt. Wir haben in Österreich Gesundheitsausgaben von über 50 Milliarden Euro – laut Statistik aktuell sogar rund 55 Milliarden. Fast 80 Prozent davon sind Personalkosten. Davon wiederum besteht rund die Hälfte aus Löhnen, Steuern und Abgaben – das fließt also direkt wieder ins System zurück. Und auch der Rest – Konsum, Investitionen in Spitalsbauten, Geräte, Arzneimittel – belebt die Wirtschaft. Der Gesundheitsbereich macht etwa zwölf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Das ist auch für die im System Beschäftigten wichtig: Ihre Arbeit hat einen gesellschaftlichen und ökonomischen Wert. Wenn es um den Bau eines neuen Bahngleises geht, sagen alle: super, Infrastruktur. Aber bei der Gesundheit? Da sagt man nur: Das kostet was.

Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Iframely angezeigt.

Und wenn wir gesund sind, können wir ja auch länger arbeiten.
Rümmele: Genau. Unternehmen, die über den Fachkräftemangel klagen, müssten eigentlich froh über ein funktionierendes Gesundheitswesen sein. Wenn jemand krank wird, hilft das System dabei, ihn rasch wieder arbeitsfähig zu machen. Und große Unternehmen, die das begriffen haben, setzen auf betriebliche Gesundheitsförderung. Die wissen: Wenn in der Grippewelle fünf Prozent der Belegschaft ausfallen, haben sie ein Problem. Und wenn wir wollen, dass Menschen bis 70 arbeiten, wie es politisch oft gefordert wird, dann müssen sie auch bis 70 gesund bleiben. Dafür braucht es ein starkes Gesundheitssystem. Prävention allein reicht nicht.

Prävention ist ein großes Thema. Sie wird oft gefordert, aber wenig gefördert. Warum?
Rümmele: Weil sie komplex ist. Und weil viele gar nicht wissen, wovon sie reden. Es gibt zwei Arten: Verhältnisprävention und Verhaltensprävention. Verhaltensprävention bedeutet: weniger rauchen, weniger trinken, mehr bewegen, gesünder essen.

Gesundheitsjournalist Martin Rümmele
Martin Rümmele im NEUE-Gespräch. Rhomberg

Und die Verhältnisprävention?
Rümmele: Die betrifft Lebens­umstände: Einkommen, Bildung, Alter, Wohnverhältnisse. All das beeinflusst Gesundheit – und lässt sich vom Individuum nur begrenzt steuern. Die WHO sagt deshalb: Die Gesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, in denen Menschen gesund leben können. Eine EU-weite Studie zeigt: Die sozialen Determinanten haben mehr Einfluss auf Gesundheitsausgaben als die demografische Entwicklung. Der Abbau sozialer Ungleichheiten bringt also mehr für die Gesundheit der Bevölkerung als viele andere Maßnahmen.

Werfen wir einen Blick nach Vorarlberg: Wir haben fünf Landeskrankenhäuser und ein Stadtspital für knapp 400.000 Menschen. Sind das Ihrer Meinung nach zu viele Spitäler?
Rümmele: Die eigentliche Frage ist nicht: was ist zu viel oder zu wenig? Sondern: Was braucht die Bevölkerung, und was brauchen die Beschäftigten? Wenn Beschäftigte mehr Spitäler und dezentrale Strukturen benötigen, muss man sich überlegen: Wie kann man diese ideal gestalten? Es bringt wenig, einfach mit dem Rechenstift zu kommen und zu sagen, so und so viele Spitäler sind zu viel.
Und wo liegt Vorarlberg, wenn es um die Gesundheit geht?
Rümmele: Was beispielsweise die Zahngesundheit angeht, liegt Vorarlberg im österreichischen Vergleich weit vorne. Beim Rauchen sind wir leider weit hinten. Aber wir diskutieren nicht über diese Unterschiede, sondern darüber, ob wir ein Spital stilllegen oder Stationen zusammenlegen.

Aktuell gibt es Widerstand wegen einer möglichen Schließung der Geburtenstation am LKH Bludenz. Wird da auf hohem Niveau gejammert, oder ist die Kritik berechtigt?
Rümmele: Dazu ein Beispiel aus der Steiermark, wo sich Ähnliches abspielte. Dort hat man dann eine zentrale Geburtenstation gebaut, die alle Stückchen spielt. Aber: Die Frauen wollten dort nicht hin. Die Lehre daraus: Es wäre sinnvoll, auch im Gesundheitsbereich auf partizipative Prozesse zurückzugreifen, wie sie aus der Stadtplanung bekannt sind. Dann geht es nicht mehr um die Frage Bludenz Ja oder Nein, sondern um ein Versorgungskonzept für die Region Oberland. Stattdessen holt man sich Berater mit den immergleichen Rezepten.

Die Vorarlberger Krankenhausbetriebsgesellschaft rekrutiert Pflegepersonal aus Indien, Tunesien und Kolumbien. Sie äußern sich im Buch kritisch über solche Praktiken.
Rümmele: Viele Bundesländer glauben, sie könnten einfach ins Ausland reisen und sagen: Kommt mit zu uns. Dabei ist der Wettbewerb längst international: Deutschland, die Niederlande oder Dänemark werben ebenso um Pflegekräfte. Wir können da nicht mithalten. Wer glaubt, Fachkräfte ließen sich einfach anwerben und hierher versetzen, wiederholt zudem die Fehler der Vergangenheit. Gerade Vorarlberg hat in der Textilindustrie erlebt, was passiert, wenn man Integration vernachlässigt, und läuft nun Gefahr, dieselbe Geschichte noch einmal zu schreiben. Wer Fachkräfte holen will, braucht ein gutes Konzept.