Kultur

Der Mensch als Siedlung

14.04.2021 • 20:26 Uhr
Die neue Ausstellung im Magazin 4. <span class="copyright">Roland Paulitsch</span>
Die neue Ausstellung im Magazin 4. Roland Paulitsch

Die Idee des „Holobiont“ wird im Magazin 4 nähergebracht.

Das Magazin 4 wird derzeit besiedelt von einem multimedialen Netzwerk aus Bildern, Texten und Körpern – und von Mikroorganismen. Letztere sind quasi die Stars der neuen Ausstellung „Holobiont. Life is other“, die am Mittwoch bei einem Pressegespräch präsentiert wurde. Auch wenn die Schau bis zum Freitag noch fertiggestellt wird, zeigte sich bereits ein völlig andersartiges Ausstellungskonzept, wie es der Besucher gewohnt ist. Denn in dieser Symbiose von Kunst und Wissenschaft, aber auch in der Symbiose der einzelnen Beiträge der zahlreichen beteiligten Künstler, werden Genregrenzen und eingeübte Denkmuster aufgelöst. So tut es auch jenes ganzheitliche Lebensbild, das hier erlebbar gemacht werden soll.

Kuratorin und Künstlerin Lucie Strecker vor der Zielwand ihrer Installation mit dem Titel „Brains’ Shit For Shit Brains“. <span class="copyright">Roland Paulitsch</span>
Kuratorin und Künstlerin Lucie Strecker vor der Zielwand ihrer Installation mit dem Titel „Brains’ Shit For Shit Brains“. Roland Paulitsch

Kulturservice-Leiterin Judith Reichart und Kulturstadtrat Michael Rauth führten in das Gespräch ein. Zwei der mit Reichart insgesamt vier Kuratoren konnten Corona-bedingt zumindest per Live-Schaltung teilnehmen. Mit dem Künstler Thomas Feuerstein, dem Medien- und Kunstwissenschafter Jens Hauser, sowie der Künstlerin und Forscherin Lucie Strecker hat Reichart offenbar hochkompetente Fachleute gewinnen können für diese polarisierende, spannende und zukunftsweisende Thematik.

Bakterien und Pilze

Der Begriff „Holobiont“ wurde 1991 von der Biologin Lynn Margulis ins Leben gerufen, und in dieser Zeit beginnt auch das Bild eines von anderen Lebewesen getrennten Menschen obsolet zu werden, wie Hauser erklärt. Denn wir Menschen sind ein Paradebeispiel für einen Holobiont, also ein Gesamtlebewesen: „Wir“ sind nämlich nicht nur unsere Körperzellen. Diese sind, so schätzen Wissenschafter, sogar in der Unterzahl gegenüber den Bakterien und Pilzen, die uns besiedeln, und ohne die wir des Lebens nicht fähig sind: eine, zugegeben, unheimliche Erkenntnis.

„Holobiont. Life is other“. Im Magazin 4 in Bregenz. Eröffnung am Freitag, 16. April, 15 bis 19 Uhr. Zu sehen bis 20. Juni, geöffnet Dienstag bis Sonntag, 14 bis 18 Uhr.

Der Mensch exis­tiert also nur im Zusammenspiel, als Netzwerk von Lebewesen. Dieser Ansatz erschütterte einst das konservative Bild des Menschen als ein über allem „Anderen“ erhabenes Geschöpf. Nun schöpft dieses Denken beständig aus einer Quelle an produktiven philosophischen Ansätzen der vergangenen Jahrzehnte. Die Grenze zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“, sie ist nicht mehr eindeutig. Der Gedanke des Menschen als Netzwerk kann auch metaphorisch betrachtet werden, erläutert Hauser: Wir selbst werden heute von unzähligen Bildern besiedelt, der Mensch wiederum besiedelt die Umwelt.

Die französische Künstlerin Orlan. <span class="copyright">Roland Paulitsch</span>
Die französische Künstlerin Orlan. Roland Paulitsch

Bewusst interdisziplinär erarbeiten Künstler Projekte zu dieser Thematik, die auch den Kunstbegriff erweitern. In dieser Ausstellung gehe es weniger um Kunst, die abbildet, als um Kunst, die performativ produziert, meint Feuerstein. Dass dabei die Grenzen des Ichs nicht nur metaphorisch erweitert werden, kann bei manchen Besuchern an die Pietätsgrenze stoßen. Die französische Künstlerin Orlan etwa – sie war 2000 bereits für das Magazin 4 im wahrsten Sinne des Wortes operativ tätig – vermischt ihre eigenen Hautzellen mit jenen von „Hautgebern“ unterschiedlicher Ethnien, erklärt Hauser. Als Metapher für diese Patchwork-Haut dient das Rauten-Kostüm des Harlekin („Harlequin Coat“, 2007). Philosophischer ­Ideengeber ist etwa Michel Serres.

Schießbude

Ein Netzwerk aus verschiedenen Positionen an einer Wand vereinen einzelne Werke zu einem Gesamtorganismus. Unterlegt wird das Ganze von Artikeln aus der Publikation „Performance Research ‚On Microperformativity‘“ (2020), herausgegeben von Hauser und Strecker. In der Publikation kann der Besucher an anderer Stelle auch lesen. Dabei ist er dazu eingeladen, laut zu lesen und dabei auf eine Petrischale zu atmen. Diese kann dann an der Wand an den jeweiligen Artikel geheftet werden, erklärt Strecker. Die Berliner Künstlerin forscht in den Bereichen Performance Art und Bio Art. In der Schau präsentiert sie eine ganz besonderes Schießbude: Der Teilnehmer schießt mit einer Luftdruckpistole auf eine Zielscheibe. Hat er einen „Treffer“, hat er eine Fäkalprobe des „Zieltypus“ erworben. Der Typus wird eingeteilt mit dem sozialen Tableau des Sozialphilosophen Pierre Bourdieu.

Petrischalen für die Besucher. <span class="copyright">Roland Paulitsch</span>
Petrischalen für die Besucher. Roland Paulitsch

Die Grenzen zwischen Mensch und Tier werden mehrmals durchbrochen, etwa von Maja Smrekar, die einen Hundewelpen an der eigenen Brust nährt. Eine Arbeit von Peter Weibel war noch nicht zu sehen, wird aber noch ergänzt – genauso wie weiteres Audiomaterial. Diese Schau ist Ausdruck interdisziplinärer Forschung, sowie einer experimentellen Kunstpraxis auf der Höhe der Zeit. Zu wünschen ist, dass diese Ansätze ihren Weg zum Besucher finden. Das Potential zur Horizont-Erweiterung ist da.