Kommentar

Von Sidelettern und Sitabriafle

31.01.2022 • 13:32 Uhr
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REUTERS/Leonhard Foeger

Dass die Sideletter der Koalitionsabkommen nun öffentlich werden, sollte man als Chance auf Veränderung sehen.

Wie hießen wohl Sideletter, bevor man begonnen hat, alles was modern, cool und korrupt ist mit englischen Begriffen zu bezeichnen? Nebenabsprachen? Rahmenvereinbarungen? Oder, ganz beamtisch: Einlegerbemerkungen? Dass die stillen Übereinkommen keine Erfindung der letzten Jahrzehnte sein können, dürfte jedem gelernten Österreicher klar sein. Schon früher teilten die Parteien die Republik unter einander auf. In den Zentralen von ÖVP und SPÖ lagerten Verzeichnisse mit allen Posten, die der jeweiligen Partei nach dem vereinbarten Proporz zur Besetzung zustanden. Die dort geparkten Parteigänger mussten vor der Widerbestellung vorstellig werden, sind erneut anpreisen und eventuell die eine oder andere Parteispende belegen. Das ist die Zeit, von der die Leute sprechen, wenn sie „Das war schon immer so.“ sagen. Nun ist also nicht nur der sogenannte Sideletter der ÖVP-FPÖ-Regierung, sondern auch jener der Koalition von ÖVP und Grünen aufgetaucht. Das ist einerseits für jene schmerzhaft, die tatsächlich geglaubt haben, im Koalitionsabkommen stehe alles was eine Koalition vorhat, andererseits müssen spätestens jetzt auch die politischen Puritaner erkennen, dass die Grünen auch nur eine Partei und keine religiöse Erneuerungsbewegung sind.

Von einer Regierung fordert man in Österreich alles und erwartet sich gleichzeitig nichts. Man ist der Meinung, dass öffentliche Posten keinesfalls politisch besetzt werden dürfen, glaubt aber gleichzeitig, dass das Gegenteil der Fall ist. Entsprechend groß war die moralische Verwirrung nach der Veröffentlichung der Sideletter: Da echauffierte sich mancher darüber, dass die Besetzung des EU-Kommissars einer Partei zugestanden wurde. Ein anderer fand nichts dabei, dass im öffentlichen Dienst Führungspositionen nach demselben Muster vergeben werden.

Man hat in Österreich nie gelernt, zwischen berechtigten politischen Interessen und Korruption zu unterscheiden. Natürlich ist ein EU-Kommissar kein Beamter, sondern Politiker und sollte daher nach demokratischen Grundsätzen bestellt werden. Wenn die ÖVP als stärkste Partei aus einer Nationalratswahl hervorgeht, mit einer anderen Partei eine Koalition bildet und mit dieser vereinbar, den Kommissarsposten zu besetzen, ist daran nichts Anrüchiges. Anders sieht es bei Stellen aus, bei denen das Gesetz eine objektive Vergabe vorsieht. Doch daran hat sich die Politik nie gehalten. Gerne wird eine Ausschreibung auf einen Kandidaten zugeschneidert, die Wunschbesetzungen zur Bewerbung „eingeladen“ und mit der Objektivierungskommission geschachert. Wozu das alles? Man könnte ein riesiges Stück offener Verlogenheit aus der österreichischen Politik entfernen, wenn man sich dazu durchränge, gewisse Postenbesetzungen als politisch zu bezeichnen und bei den anderen tatsächlich objektive Auswahlverfahren zu gewährleisten. So macht sich die Bundesregierung jedes Mal aufs neue lächerlich, wenn sie beispielsweise die Richterstellen am Verfassungsgerichtshof ausschreibt, während jeder schon weiß, wer es denn werden soll. Damit tut man sich, den Bewerbern und der Republik keinen Gefallen.
Dass die Sideletter, Nebengschaftln und Sitabriafle nun öffentlich werden, sollte man daher als Chance auf Veränderung sehen.