Kommentar

Keine Wahlverlierer, nur einen – die Europäische Union

10.06.2024 • 12:46 Uhr
Keine Wahlverlierer, nur einen – die Europäische Union
Die EU-Wahl sollte ein Weckruf für alle Parteien sein, dürfte man meinen.

Eine richtungsweisende Wahl mit einem klaren Ergebnis, auch wenn es offenbar nur Gewinner gibt – ein Kommentar.

Rien de rien. Nein, ich bedauere nichts. Zum ersten Mal erringen die Freiheitlichen in einer demokratischen Österreichwahl die Spitzenposition. Und trotzdem gibt es in der Alpenrepublik offensichtlich keine Verlierer, ganz im Sinne der hierzulande offenbar nicht vorhandenen Fehler- oder auch Rücktrittskultur.

Das Ergebnis der EU-Wahl entspricht im Großen und Ganzen den Prognosen. Zumal ganz Österreich die traditionelle Bekanntgabe um 17 Uhr wohl zum größten Teil als ein vorläufiges Resultat empfand, und weniger als eine Umfrage. Und auch wenn im Endergebnis der Vorsprung der FPÖ weniger deutlich ausfällt als prognostiziert, ist die Rechtspartei eindeutig der große Sieger einer Wahl, die eine deutliche Tendenz für den Herbst vorgibt.  

Wenn eine offensichtlich EU-feindliche Partei, die damals wie heute bis in die höchste Führungsetage mit einem Austritt aus der Union kokettiert, diese Wahl gewinnt, besteht bei allen politischen Mitbewerbern akuter Handlungsbedarf. Wahre Größe erkennt man nicht bei Erfolgen, das Eingeständnis einer Niederlage schmerzt, ist aber dringend notwendig, auch in Hinblick auf die anstehenden Wahlen. 

Wenn man als Volkspartei haarscharf an zweistelligen Verlusten vorbeischrammt, gibt es keinen Grund zu feiern. Trotzdem spricht die ÖVP von einem Start von der Nulllinie aus und zeigt sich mit dem Ergebnis vorsichtig zufrieden. Weder der EU-Spitzenkandidat noch die Parteiführung seien infrage zu stellen, viel eher müsse man das Ergebnis als Arbeitsauftrag verstehen. Und man habe jede Stimme neu gewinnen müssen. Gleichzeitig reagierte man mit Unverständnis auf die dem Wählerauftrag entsprechende, durchaus nachvollziehbare Frage nach der Bestellung des EU-Kommissars. Das bleibe selbstverständlich eine Empfehlung der (noch?) regierenden Parteien – es geht ja schließlich um die Sicherung der Pfründe.

Die Wahl verloren hat auch nicht die SPÖ. Der viel zitierte „Babler“-Effekt war wenig bis gar nicht spürbar, vielleicht auch, weil die Sozialdemokratie offensichtlich ein „Ausländerproblem“ hat. Denn gerade die Linksparteien scheitern in der Wählergunst, wenn es um Fragen nach Asyl- oder Sicherheitspolitik geht – mit ein eindeutiger Grund für den Aufschwung rechter Parteien in ganz Österreich.

Trotz böswilligem, medialem „Gefurze“, ganzer Kampagnen gegen die Partei, einer jugendlichen Spitzenkandidatin, die wohl wie keine andere ins Kreuzfeuer geriet, gelang es den Grünen, zwei Mandate zu erringen. Und sich im Nachgang ebenfalls bei dem Vertrauen der Wähler und Wählerinnen brav zu bedanken. Die Erleichterung, den Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben, war offensichtlich. Und trotzdem steigt der Bodenseespiegel weiter, Bayern versinkt in den Fluten und im Burgenland und der Steiermark stehen ganze Landstriche unter Wasser. Wenn man angesichts solcher Bilder als Grünpartei, noch dazu in Regierungsverantwortung, die unmittelbaren Auswirkungen der Klimakrise nicht in Stimmen ummünzen kann, muss man eine Grundsatzdiskussion führen. Hier scheint der Schilling, Pardon, Groschen, nicht gefallen zu sein.

Dass die dezidiert für die „Vereinigten Staaten für Europa“ auftretenden Neos zwar mit dem zweistelligen Ergebnis, nicht aber mit einer EU-feindlichen Stimmung im Land zufrieden sein können, zeigt sich mit der Reaktion ihres Spitzenkandidaten in der ersten, öffentlichen Diskussionsrunde im TV. Die verbale Auseinandersetzung der offensichtlich den Wahlkampf weiter fortsetzenden Kontrahenten aus dem blauen und roten Lager wurde mit einem Ausdruck der Abscheu kommentiert, der Bände spricht.

Wie man mit derart deutlichen Niederlagen umzugehen hat, beweist ein Blick nach Frankreich. Präsident Macron reagierte auf den Urnengang der Grand Nation, die Le Pens Rechten noch mehr Zuspruch bescherte als hierzulande. Mit großem Bedauern, aber mit aller Konsequenz, rief das französische Regierungsoberhaupt die Auflösung der Nationalversammlung auf. Ende Juni wählt Frankreich erneut, dieses Mal auf nationaler Ebene.

Wenn auch nicht politisch, musikalisch dürften sich die heimischen Volksvertreter an Frankreich orientieren. Zumindest wenn es um Fehlerkultur, Schuldeingeständnis oder Bedauern handelt. „Non, rien de rien. Non, je ne regrette rien (Nein, gar nichts. Nein, ich bereue nichts)“, sang schon die großartige Édith Piaf, der Spatz von Paris. Und auch wenn es hierzulande die Spatzen von den Dächern pfeifen: In Österreich gibt es keine Wahlverlierer, außer einen – die Europäische Union. 

(NEUE)