Was wir nicht mit unseren eigenen Augen sehen

Himmelsbeobachter können über Phänomene berichten, von denen andere nur träumen. Doch Wirklichkeit und
Täuschung liegen dabei oft nahe beisammen.
Ein gutes Maß an Skepsis ist die Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnisse. Das gilt besonders bei Himmelsbeobachtungen. Immer wieder erhalte ich Fotos oder Kurzfilme, die mit Handy-Kameras angefertigt wurden, und werde um Einschätzung gefragt.
Der ungläubige Thomas
Das Johannes-Evangelium berichtet von einem Treffen der Jünger Jesu nach dessen Tod. Thomas, einer der Jünger, meinte, er würde die Auferstehung erst glauben, wenn er die Wundmale Jesu berühren kann. Die Skepsis des ungläubigen Thomas ist für uns gut verständlich. Wissenschaftler sagen, dass außergewöhnliche Phänomene nach außergewöhnlichen Beweisen verlangen. Gerne sagen wir auch, wir glauben nur, was wir mit den eigenen Augen gesehen haben. Anhand einiger Himmelsphänomene werden die Grenzen dieser recht naiven Vorstellung aufgezeigt.
Phantastische Detektoren
Unsere Augen sind großartige Empfänger für schwaches Licht. Sogar einzelne Lichtquanten können auf der Netzhaut registriert werden. Bei absolut dunklem Nachthimmel würden wir bis zu 3000 Sterne am Himmel zählen. Wir können Sterne bis zu einer Magnitude von sechs sehen, das ist 100 Mal schwächer als die hellsten Sterne erster Magnitude. Dennoch wissen wir seit der Erfindung des Fernrohrs, dass es viel lichtschwächere Sterne gibt, die genauso real existieren. Mit Fotoplatten und elektronischen Lichtempfängern hat man Sterne abgelichtet, die mehrere Millionen Mal schwächer leuchten als jene, die wir mit freiem Auge sehen.
Eine weitere Eigenschaft der menschlichen Augen, die Winkelauflösung, ist beeindruckend. Eine Bogenminute ist 1/60 eines Winkelgrades. Malt man auf ein Blatt Papier zwei parallele Striche im Abstand von drei Zentimetern, so können wir die Striche noch aus 100 Metern Distanz getrennt sehen. Ein Blick durchs Fernglas zum Mond zeigt, dass es dort viel kleinere Krater gibt, als wir mit freiem Auge sehen. Selbstverständlich sind auch diese Krater auf dem Mond real. Obwohl die menschlichen Augen phantastische Lichtdetektoren sind, können wir um vieles mehr als real erachten, als wir sehen.
Täuschungen
Nachts sind alle Katzen grau, lautet eine Redewendung, die zum Ausdruck bringt, dass für das Farbsehen eine gewisse Grenzhelligkeit überschritten sein muss. Die phantastisch farbigen Astrofotos von großen Observatorien bilden nicht die reale Welt ab. Mit den Farben werden Intensitäten oder Geschwindigkeiten visualisiert. Die Augen führen uns öfters in die Irre. Wer hat noch nicht bei einem nächtlichen Spaziergang in einem entfernten Strauch eine Tiergestalt vermutet? Der Mond sieht in der Nähe des Horizonts viel größer aus, als wenn er hoch am Himmel steht. Auf einer Fotografie lässt sich das leicht nachmessen.
Fotobeweise
Womit wir beim angeblich untrüglichen Fotobeweis wären. Ein moderner Thomas würde vielleicht ein Foto von den Wundmalen Jesu verlangen. Im letzten Jahr haben uns wunderschöne Bilder von Polarlichtern erfreut. Alles war real außer, dass die spektrale Empfindlichkeit der elektronischen Chips der Kamera von jener des Auges abweichen kann und so das Polarlicht zum Beispiel etwas rötlicher wirkt. Der Absturz eines Starlink-Satelliten im letzten Jahr wurde von vielen Handy-Fotografen festgehalten. Das sind schöne Beweisfotos. Doch diese Kameras können mehr. Man unterliegt der Versuchung, die helle Venus oder einen Stern wie Sirius genauer zu fotografieren oder zu filmen. Moderne Kameras ermöglichen 30- bis 50-fache Vergrößerungen. Dabei zeigen sich wundersame Figuren und Farben. Sie können trügerisch echt ausschauen und sogar die Illusion erwecken, als würde man die Eigendrehung des Sterns oder des Planeten sehen. Das sind aber nur Illusionen, die durch die starke Vergrößerung entstehen. Vorsicht bei der Interpretation von Beobachtungsdaten ist daher immer geboten.