“Niemand kann sich auf die ÖVP ausreden”

Die Öffnungen, die er “geerbt” hat, kamen zu früh, sagt Gesundheitsminister Johannes Rauch.
Seit Sie vor zehn Tagen als Minister angelobt wurden, haben sich 450.000 Menschen mit Corona infiziert. Hat die Regierung vor dem Virus kapituliert?
JOHANNES RAUCH: Natürlich nicht. Die Höhe der Zahlen macht mir Sorge und ist auch auf die Öffnungsschritte zurückzuführen. Ja, die Öffnung in der Deutlichkeit ist zu früh gekommen. Aber dieses Virus und die Pandemielage entwickeln sich dermaßen dynamisch, dass auch die Erkenntnisse, die wir gewinnen, immer hinterherhinken. Je höher die Ansteckungszahlen sind, desto wichtiger ist, dass jeder und jede einzelne sich fragt: Was kann ich für einen Beitrag leisten? Mein Appell: Bitte tragen Sie eine Maske, auch wenn Sie nicht verordnet ist! Bitte halten Sie Abstand und waschen Sie Ihre Hände, auch, wenn Sie es nicht mehr hören können!
Welche Erfahrung der letzten zwei Jahre lässt den Schluss zu, dass Eigenverantwortung der richtige Weg ist?
Zu Beginn der Pandemie war die Angst, schwer zu erkranken oder zu sterben größer als der Wunsch, sich nicht einschränken zu lassen. Das hat sich umgedreht. Und das ist problematisch, weil es Menschen gibt, die trotz allem ein großes Risiko haben. Ich war selbst einmal Krebspatient, ich weiß, was das heißt. Wir brauchen ein Mindestmaß an Solidarität mit dieser Gruppe. Das kann man schon verordnen, aber am Ende des Tages wird es darauf ankommen, dass die Menschen bereitwillig mitmachen, weil sie erkennen: Es hilft nichts, da müssen wir durch.
Ist die Strategie jetzt, auf Durchseuchung zu setzen?
Nein. Die Strategie ist, noch einmal alle Experten zu befragen, sich die Prognoserechnung anzuschauen und zu prüfen, welche Maßnahme, wann greifen würde – und ob man damit die Welle früher knicken kann.
Zur Person: Johannes Rauch
Seit 8. März ist Johannes Rauch Gesundheitsminister. Zuvor war er 18 Jahre als Landesrat der schwarz-grünen Regierung in Vorarlberg. Vor der Politik war der heute 62-Jährige Bankkaufmann, später Sozialarbeiter. Er ist mit der Vorarlberger SPÖ-Chefin Gabriele Sprickler-Falschlunger, einer praktischen Ärztin, verheiratet.
Die Experten waren doch schon sehr deutlich: Gecko empfahl Öffnungsschritte erst später, die Ampelkommission wollte wieder Maßnahmen einführen.
Wenn es nur so eindeutig wäre. Auch die Experten sind sich in ihren Aussagen nicht immer einig. Es nützt nichts, wenn Gremium A sagt: “Vielleicht ist es so”, und die Prognoserechner sagen: “In zwei, drei oder auch vier Wochen könnten die Zahlen hinuntergehen.” Das ist keine solide Entscheidungsgrundlage. Es gibt eine große Zahl an Beraterstäben, die im Lauf der Pandemie eingerichtet wurde. In meinen Augen sind die noch nicht immer gut vernetzt, agieren nicht deckungsgleich. Es ist meine Aufgabe, das zu straffen.
Ab April werden kostenlose Tests kontingentiert. Nach Kontakt mit einem Infizierten können Ungeimpfte sich kostenlos testen lassen. Geimpfte müssen – wenn sie schon zehnmal getestet haben – dafür zahlen. Wieso?
Das war ein Kompromiss zwischen der Maximalforderung alles einzustellen und der Position, weiter wie bisher zu testen. Wenn es Nachschärfungen braucht, werden wir das machen. Aber jetzt schauen wir einmal, wie es funktioniert. Für die meisten Bundesländer stellt das eine Verbesserung da, weil es einheitlich ist.
Wie viel Geld soll damit gespart werden?
Einsparungen stehen für mich nicht im Vordergrund. Ich halte die Lösung, die wir jetzt haben, für vertretbar. Sollten wir im Herbst wieder mehr Tests brauchen, docken wir an ein System an, das man hochfahren kann.
Testen schützt nicht vor Ansteckung, Masken schon. Kommt die FFP2-Maskenpflicht wieder?
Mir ist eines wichtig: nicht heute so und morgen anders. Ich habe die Öffnungen geerbt, die das Infektionsgeschehen jetzt beeinflussen. Aber Pandemiemanagement heißt nicht, ein Schnellboot steuern, sondern einen Tanker, der träge ist. Ich werde mir anschauen, wie lange es dauert, bis so eine Maskenpflicht ihre Wirkung entfaltet. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wohl auch weitere Absonderungsmaßnahmen aufgehoben werden – aber nicht jetzt. Die Dinge sind nicht unveränderbar, aber Anpassungen sollen kongruent vollzogen werden.
Sie haben in Vorarlberg lange mit der ÖVP reagiert. Welche Erfahrungen daraus können Sie im Bund brauchen?
Das ist eine Fangfrage. (schmunzelt) Ich bin sicher nicht so vermessen zu glauben, Landesliga ist gleich Bundesliga. Aber ich habe gelernt, dass es Beharrlichkeit braucht, extrem viele Gespräche und Überzeugungsarbeit. Und auch eine Portion Härte.
Sind Ihre Vorgänger am Koalitionspartner gescheitert?
Gescheitert ist ein brutales Wort. Rudi Anschober hat gesundheitlich einen hohen Preis gezahlt. Wolfgang Mückstein hat die Bedrohungssituation, der er ausgesetzt war, sehr belastet. Aber kein Gesundheitsminister kann sich auf den Koalitionspartner ausreden. Man muss es schon selbst auf die Reihe bekommen sich durchzusetzen. Da habe ich nicht den Anspruch auf Milde. Auch ich werde daran zu messen sein.
Themenwechsel: Könnten die ukrainischen Flüchtlinge das Personalproblem in der Pflege lösen?
Wir haben nicht nur in der Pflege, sondern in vielen Branchen einen Arbeitskräftemangel – auch deshalb, weil in Österreich 15 Jahre lang Politik gemacht wurde, die davon ausging, dass alles, was von außen kommt, per se böse ist. Vielleicht bietet der Krieg in der Ukraine die Chance auf einen Wandel: Wir brauchen jeden einzelnen, wir wollen sie auch am Arbeitsmarkt integrieren. Was die Pflege angeht, wird es noch in diesem Jahr ein großes Maßnahmenpaket geben. Dass wir da liefern müssen, ist mir klar.
Viele führen ins Treffen, dass die ukrainischen Flüchtlinge leichter zu integrieren sind, als jene aus den Jahren davor. Sehen Sie das auch so?
Ich würde das umdrehen. Ich hoffe, dass dieser Zugang dazu führt, dass aus Gesprächen zwischen Flüchtlingen und Österreicherinnen und Österreichern eine Erkenntnis wächst: Nämlich, dass es komplett egal ist, aus welchem Land oder Kulturkreis man kommt, wenn Vertreibung aufgrund eines Krieges stattfindet. Die Mutter mit ihrem Kind, die Familie, jede Person leidet ganz genau gleich – egal, welche Hautfarbe sie hat, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehört. Vertreibung aufgrund von Krieg hat immer die gleiche Brutalität und Unmenschlichkeit. Es ist unsere Verpflichtung, da keinen Unterschied zu machen.