Der blau-rote Mauerfall

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Wiener Parkett. Ausgerechnet die SPÖ könnte Mario Kunasek demnächst zum ersten freiheitlichen Landeshauptmann küren – und fast keiner regt sich auf.
Blau-Rot könnte demnächst gemeinsam in der Grazer Burg regieren – und kein Aufschrei in der SPÖ weit und breit angesichts eines FPÖ-Landeshauptmanns Mario Kunasek, wenn man von einigen Veteranen und den Jugendorganisationen im Land absieht. Macht macht eben pragmatisch. Tatsächlich hört man aus der SPÖ plötzlich neue Töne nach all den Jahrzehnten, in denen jede Koalition mit der FPÖ als Tabubruch inszeniert wurde. SPÖ-Chef Andreas Babler will, wegen faktischer Einflusslosigkeit, „die politische Willensbildung zur Kenntnis nehmen“. Und selbst Alt-Kanzler Franz Vranitzky, unter dem die Zusammenarbeit mit der FPÖ in der SPÖ 1986 zum Tabu erhoben wurde, findet nun, dass die Landesparteien selbst entscheiden sollten.
Faktisch war das ohnehin stets der Fall, auch wenn es der Bundespartei gegen den Strich ging. 2004 einigten sich in Kärnten Jörg Haider (FPÖ) und Peter Ambrozy (SPÖ) nach nächtlichen Verhandlungen auf die sogenannte „Chianti-Koalition“, die damals entstandenen Verwundungen wirkten in der roten Landespartei noch lange nach. Von 2015 bis 2020 regierte Hans Niessl im Burgenland mithilfe von Rot-Blau.
Während in der Steiermark die schwer geschlagene ÖVP wie die SPÖ um die Gunst von Kunaseks Freiheitlichen buhlen, findet die FPÖ mit Herbert Kickl in Wien keinen Partner zum Regieren. Doch die Fronten sind in Bewegung …
Das komplizierte Verhältnis der SPÖ zum dritten Lager hat eine lange Geschichte. Am Anfang steht ein Trauma. Bei der Gründung der Republik 1918 war die SPÖ die treibende Kraft, unter den Christlichsozialen standen viele dem neuen Staat noch skeptisch gegenüber. Auf eine Verfassung konnten sich Rote und Schwarze noch einigen, doch ab 1920 schlossen sich die Christlichsozialen mit den deutschnationalen Parteien zum „Bürgerblock“ gegen die Sozialisten zusammen. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt – 1933, 1934, 1938, 1939.
Diese Erfahrung grub sich ein. Bruno Kreisky war nicht nur ein Modernisierer der Zweiten Republik, sondern auch ein Getriebener der Ersten: Nie wieder dürfe sein, dass die SPÖ durch eine Mehrheit rechts der Mitte majorisiert werde. Seine Strategie war, die Bürgerlichen zu spalten, Mittel zum Zweck die FPÖ. Mit Friedrich Peter, ein zum Demokraten gewandelter ehemaliger SS-Obersturmführer, schmiedete er 1970 ein Bündnis, das die Stützung einer SPÖ-Minderheitsregierung im Tausch gegen ein minderheitenfreundliches Wahlrecht vorsah. Nun hatte die ÖVP das Oppositionsbummerl. Die folgenden Neuwahlen brachten eine Absolute der SPÖ bis 1983, im Abgang paktierte Kreisky Rot-Blau als Teil seines Erbes, an dessen Spitze Kanzler Alfred Sinowatz und Norbert Steger als blauer Vize standen.
Der Aufstieg Jörg Haiders zum FPÖ-Chef 1986 wurde zum Wendepunkt. Die Angst vor dem Bürgerblock war in der SPÖ zurück. Vranitzky stellte Kreiskys Strategie auf den Kopf, indem er die FPÖ zum zentralen Gegenspieler erklärte. Die „Vranitzky-Doktrin“ war geboren, wobei der Alt-Kanzler Wert darauf legt, weder deren Erfinder noch Namensgeber gewesen zu sein. Für die Doktrin selbst gab es einige Gründe – und den machtpolitischen Vorteil, damit auch der ÖVP die Chance aufs Kanzleramt zu verbauen.
Als Wolfgang Schüssel Anfang 2000 die erste schwarz-blaue Regierung aus der Taufe hob, ist die FPÖ für die SPÖ zur machtpolitischen Sackgasse geworden. Ausbruchsversuche gab es immer wieder, etwa als Alfred Gusenbauer Haider zum Spargelessen im steirischen Gleisdorf traf. Oder Pamela Rendi-Wagners Liebäugeln mit einem Bündnis unter Einschluss der FPÖ nach der Abwahl von Sebastian Kurz. Oder der rote Kriterien-Katalog, der das Verhältnis zur FPÖ versachlichen sollte. Mit ihrer kategorischen Absage an Herbert Kickl hat sich allerdings auch die ÖVP im Bund ins Eck gedribbelt und muss nun mit der SPÖ als einziger Machtoption ein „Blut, Schweiß und Tränen“-Programm verhandeln. Doch, wie man in der Steiermark sieht, sind die Dinge in Bewegung.