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Jeden Tag, was Neues lernen: Daumen mal Pi

01.09.2024 • 13:00 Uhr
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Die Plejaden sind ein offener Sternhaufen, der mit bloßem Auge gesehen werden kann. Shutterstock

Die Redensart „Daumen mal Pi“ meint ungefähr. Überschlagsrechnungen und grobe Abschätzungen tragen viel zum Verständnis, gerade in der Astrophysik, bei.

Die Kreiszahl Pi ist das Verhältnis des Kreisumfangs zum Durchmesser. Sie ist irrational, hat also unendlich viele Stellen nach dem Komma. Das Ergebnis der Umfangberechnung bleibt daher für immer ungenau. Der Umfang eines Kreises mit einem Meter Durchmesser ist drei Meter, wenn man Pi auf 3,0 abrundet. Für die meisten Zwecke reicht diese Genauigkeit.

Mit dem Daumensprung kann man Entfernungen abschätzen. Hand ausstrecken, Daumen hoch, Augen wechselweise schließen; den Daumensprung in Zentimeter nehmen und mit Zehn multiplizieren ergibt die ungefähre Entfernung. Die Daumensprungmethode ist eine Abschätzung, die Zahl Pi ist nie exakt, vermutlich kann man so die Redensart „Daumen mal Pi“ verstehen.

Sinnvolle Abschätzungen

Für ein grundlegendes Verständnis der Welt und des Universums braucht man nicht viele Nachkommastellen in den Zahlen. Ein Kleidermacher möchte wissen, ob das Leder, das eine Kuhhaut hergibt, ausreicht, um die gewünschten Kleidungsstücke zu fertigen. Die komplizierte Oberfläche der Kuh exakt zu berechnen würde uns zu Flächenintegralen führen, die mache überfordern und für alle eine langwierige Aufgabe darstellen. Man könnte aber auch annehmen, dass eine Kuh ungefähr eine Kugelgestalt hat. Vielleicht kennt man die Formel, dass die Oberfläche einer Kugel Pi mal dem Kugeldurchmesser mal dem Kugeldurchmesser ist. Jedenfalls ist die einfache Formel rasch gefunden.
Messen oder schätzen wir die kugelförmige Kuh mit einem Durchmesser von zwei Metern, so weiß der Kleidermacher sofort, dass er 3x2x2, das heißt zwölf Quadratmeter Leder zur Verfügung haben wird. In einem 1996 erschienenen Buch erklärt Lawrence M. Krauss wie Physiker durch radikale Vereinfachungen die Welt verstehen. Der deutsche Titel des Buches lautete „Nehmen wird an, die Kuh ist eine Kugel“. Mit derselben Denkweise, also mit radikalen Vereinfachungen und klugen Abschätzungen, lassen sich auch große Fragen der Astrophysik beantworten.

Goldene Regel

Der vielfach ausgezeichnete theoretische Physiker John Archibald Wheeler (1911- 2008) formulierte folgende „goldene Regel“: Stelle nie eine Berechnung an, deren Ergebnis du nicht kennst. Führe davor immer eine einfache Abschätzung durch.“

Anlässlich einer Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft Anfang Juli 2024 hat der Astrophysiker Alexander Krivov von der Friedrich-Schiller-Universität Jena dieses Konzept nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch Lehrern und Schülern empfohlen. Grundlage sind Fakten, die auf zwei A4-Seiten Platz haben, quasi das Universum in Zahlen. Mit diesen Daten und mit Vereinfachungen – also mit „Daumen mal Pi“ Regeln gibt Krivov Anleitungen zur Beantwortung großer Fragen. Dazu werden Abschätzungen anstelle von Rechnungen gemacht und einfache Lösungswege gesucht. Die Ergebnisse werden auf Plausibilität überprüft.

Zwei Stern-Beispiele

Sterne machen eine Eigenbewegung von zirka einer Bogensekunde im Jahr. 3600 Bogensekunden sind ein Grad. Ohne große Rechnung erkennt man, dass die Römer vor 2000 Jahren dieselben Sternbilder wie wir sahen, der Himmel der Dinosaurier aber ein völlig anderer war.
Würde man vom Siebengestirn (den Plejaden) aus die Sonne von freiem Auge sehen? Unsere Faktenliste sagt, dass die absolute Helligkeit der Plejaden-Sterne jene der Sonne um fünf Magnituden übertreffen. Wir sehen die Plejaden als Sterne vier. Größe vier plus fünf ist neun. Das heisst: Die Sonne ist von den Plejaden aus gesehen ein Stern neun Größe und daher von freiem Auge nicht sichtbar.

Die Fragenliste lässt sich beliebig fortsetzen und zeigt, dass wir mit „Daumen mal Pi“ und ohne Großrechner das Universum sehr gut verstehen können.

Von Robert Seeberger